Kassandra
Hat mir gesagt, daß die fremde Frau ihm, je länger das Unternehmen zu ihrer Rückeroberung dauerte, um so gleichgültiger, ja geradezu verhaßt wurde, während die Sorge um seinen Vater sich in ihm ausbreitete. Das konnte ich nicht wissen. Damals war es, ja: damals muß es gewesen sein, daß diese Träume begannen, in denen Aineias mir erschien; in denen ich Lust empfand, wenn er mich bedrohte. Träume, die mich quälten und in einen Zustand untilgbarer Schuld trieben, in eine verzweifelte Selbstfremdheit. O ja. Ich könnte wohl Auskunft darüber geben, wie Abhängigkeit und Angst entstehen. Doch fragt mich keiner mehr.
Ich wollte Priesterin werden. Ich wollte die Sehergabe, unbedingt.
Um die unheimliche Wirklichkeit hinter der glanzvollen Fassade nicht sehn zu müssen, veränderten wir flugs unsre Fehlurteile. Ein Beispiel, das mich empört hat, als ich mich noch empören konnte: Wie die Troer, die doch alle, gleich mir, die Ausfahrt des ZWEITEN SCHIFFES bejubelt hatten, später darauf bestanden: mit diesem Schiff habe das Verderben angefangen. Aber wie hatten sie so schnell vergessen können, was doch auch sie auf dem Schoß ihrer Mütter und Ammen in sich aufgenommen hatten: daß die Kette der für unsre Stadt unheilvollen Ereignisse sich in grauer Vorzeit verlor, Zerstörung und Aufbau und Wiederzerstörung, unter der Regentschaft wechselnder Könige, glücklos die meisten. Was hieß denn sie, was hieß denn uns alle hoffen, gerade dieser König, gerade mein Vater Priamos würde dieUnglückskette durchschlagen; gerade er würde ihnen, uns das Goldene Zeitalter wieder heraufführen? Warum werden gerade diejenigen Wünsche, die sich auf Irrtümern gründen, in uns übermächtig? Nichts haben sie mir später mehr übelgenommen als meine Weigerung, mich ihrem fatalen Wunschentzücken hinzugeben. Durch diese Weigerung, nicht durch die Griechen, verlor ich Vater, Mutter, Geschwister, Freunde, mein Volk. Und gewann – nein; an meine Freuden zu denken, heb ich mir noch auf, bis ich es brauchen werde.
Als das ZWEITE SCHIFF endlich zurückkehrte, selbstverständlich – so sagte auf einmal jedermann! – ohne die Königsschwester, aber auch ohne Kalchas den Seher; als das Volk sich enttäuscht, ich fand: beinah feindselig am Hafen versammelte, murrend (der Spartaner, erfuhr man, habe über der Troer Forderung gelacht); als der düstere Schatten auf meines Vaters Stirn erschien – da habe ich zum letztenmal öffentlich geweint. Hekabe, die über den Fehlschlag, den sie vorausgesehn, nicht triumphierte, verwies es mir, ohne Schärfe, doch bestimmt. Über politische Ereignisse weine man nicht. Tränen trübten das Denkvermögen. Wenn der Gegner sich seinen Stimmungen überlasse – lache! –, um so schlimmer für ihn. Daß wir des Vaters Schwester nicht wiedersehn würden, war jedem Menschen klar gewesen, der seine fünf Sinne beieinander hatte. Das Volk, natürlich, begleite Ein- und Auslaufen eines jeden Schiffes mit seinen hochfliegenden Erwartungen und unvermeidlichen Enttäuschungen. Die Regierenden hätten sich zu beherrschen. – Ich lehnte mich gegen die Regeln der Mutter auf. Rückblickend seh ich: Sie hat mich ernst genommen. Der Vater hat nur Trost bei mirgesucht. Geweint habe ich öffentlich nicht mehr. Und immer seltner heimlich.
Blieb Kalchas der Seher. Wo war er. Unterwegs gestorben? Nein. Getötet worden? Auch das nicht. Also von den Griechen als Geisel behalten. Dies möge das Volk glauben, glaubte es eine Zeitlang auch, es konnte nicht schaden, wenn der Griechen übler Ruf sich festigte. Im Palast lief eine andre Botschaft durch die Gänge, die ich mir, als sie mir zugetragen wurde, erbittert, mit geballten Fäusten verbat. Marpessa beharrte: Es sei aber die Wahrheit, im Rat sei sie zur Sprache gekommen. Und, übrigens, auch im Schlafgemach der Königin und des Königs. – Wie: Kalchas zu den Griechen übergelaufen? Unser hochverehrter Seher, der in die innersten Staatsgeheimnisse eingeweiht war, ein Abtrünniger? – Eben das. – Die Nachricht mußte falsch sein. Zornig ging ich zu Hekabe, erleichterte nach Art der Unüberlegten mein Gewissen, zwang die Mutter zu handeln. Marpessa verschwand aus meiner Nähe. Parthena die Amme erschien mit verweinten vorwurfsvollen Augen. Ein Ring des Schweigens legte sich um mich. Der Palast, der heimatlichste Ort, zog sich von mir zurück, die geliebten Innenhöfe verstummten mir. Ich war mit meinem Recht allein.
Ein erster Kreislauf.
Aineias war es – er,
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