Kassandra
gerettet. Bis er doch einmal unterging, nicht gefunden wurde, bis an der Stelle, in der er ins Meer eingetaucht war, ein schwarzer Tauchvogel mit rotem Hals auftauchte, in dem der Orakeldeuter Kalchas die verwandelte Gestalt des Aisakos erkannte und den man sofort unter den Schutz der Allgemeinheit stellte. Ich allein – wie konnt ich es vergessen: Das war das erstemal! – ich allein wand mich tage- und nächtelang schreiend, in Krämpfen auf meinem Lager. Selbst wenn ich es hätte glauben können, aber ich glaubte es nicht, daß mein Bruder Aisakos ein Vogel war; daß die Göttin Artemis, der man Seltsamkeiten zutraute, ihm, indem sie ihn verwandelte, seine innigste Sehnsucht erfüllt habe: Ich wollte keinen Vogel anstelle meines Bruders. Ich wollte ihn, Aisakos, den kräftigen, warmhäutigen Mann mit dem braunen Kraushaar, der anders als alle meine Brüder im Palast zu mir war; der mich auf den Schultern nicht nur durch alle Höfe, auch durch die Gassen der Stadt trug, die um die Zitadelle gebaut war, die jetzt zerstört ist wie sie und in der alle die Leute, die jetzt tot oder gefangen sind, ihn grüßten. Der mich »meine arme kleine Schwester« nannte und mich mit hinausnahm ins freie Gelände, wo der Seewind durch die Olivenbäume strich, die Blätter silbern aufblitzen ließ, so daß der Anblick mir weh tat; der mich schließlich mitnahm in jenes Dorf am Abhang des Ida-Berges, wo er zu Hause war, denn sein Vater war zwar Priamos,aber seine Mutter war Arisbe, die mir damals uralt vorkam, auch unheimlich, und deren weiße Augen ich aus dem Dunkel eines kleinen, mit Kräutern behängten Raumes hervorblitzen sah, während Asterope, des Aisakos junge schlanke Frau, ihren Mann mit einem Lächeln begrüßte, das mir ins Fleisch schnitt. Ihn wollte ich wiederhaben, mit Haut und Haar, schrie ich, ihn ihn ihn ihn. Aisakos. Und nie wollte ich, aber das dachte ich nur, ein Kind.
Ja: Damals war es, als ich zum erstenmal hörte: Sie ist von Sinnen. Hekabe die Mutter hat mit Armen, in denen Männerkraft steckte, meine zuckenden bebenden Schultern gegen die Wand gedrückt – immer das Zukken meiner Glieder, immer die kalte harte Wand gegen sie, Leben gegen Tod, die Kraft der Mutter gegen meine Ohnmacht; immer eine Sklavin, die meinen Kopf festhielt, und immer der braune bittere Saft, den Parthena die Amme mir einflößte; immer der schwere Schlaf und die Träume. Jenes Kind der Asterope und des Aisakos, das mit seiner Mutter zusammen bei der Geburt gestorben war, wuchs in mir. Als es reif war, wollte ich es nicht zur Welt bringen, da spie ich es aus, und es war eine Kröte. Vor der ekelte ich mich. Merops, der uralte Traumdeuter, hörte mich aufmerksam an. Dann empfahl er der Hekabe, aus der Nähe dieser Tochter alle Männer zu entfernen, die Aisakos ähnlich sähen. Wie er sich das vorstellte, soll Hekabe den Alten zornig gefragt haben. Der zuckte die Achseln und ging. Priamos setzte sich an mein Lager und besprach mit mir in allem Ernst Staatsgeschäfte. Schade sei es, jammerschade, daß nicht ich, an seiner Stelle und in seinen Kleidern, am Morgen auf dem hochlehnigen Stuhl im Rat sitzenkönne. Ich liebte den Vater noch mehr als sonst, wenn er sich um mich sorgte. Daß er Schwierigkeiten persönlich nahm, wußte jeder im Palast, ich nahm es als Stärke, alle anderen als Schwäche. Da wurde es zur Schwäche.
Rasend schnell die Abfolge der Bilder in meinem müden Kopf, die Worte können sie nicht einholen. Merkwürdige Ähnlichkeit der Spuren, welche verschiedenste Erinnerungen in meinem Gedächtnis vorfinden. Immer leuchten diese Gestalten auf, wie Signale. Priamos, Aisakos, Aineias, Paris. Ja. Paris. Paris und das Unternehmen DRITTES SCHIFF, das mir in allen seinen Voraussetzungen und Folgen klar vor Augen steht, während ich mich damals in undurchschaubarer Wirrnis beinah verlor. Das DRITTE SCHIFF. Es kam vor, vielleicht, weil ich mich zu der Zeit, da es ausgerüstet wurde, gerade auf die Weihe zur Priesterin vorbereitete, daß ich mich mit diesem Schiff gleichsetzte, daß ich insgeheim mein Schicksal mit dem seinen verband. Was hätte ich darum gegeben, mit ihm hinauszufahren. Nicht nur, weil ich wußte: Diesmal würde Aineias seinen Vater Anchises auf der Fahrt begleiten; nicht nur, weil das Ziel der Expedition, wenn man es scharf ins Auge fassen wollte, immer wieder verschwamm und genug Platz für wunderbare Erwartungen ließ – nein: aufgewühlt und zum Äußersten bereit war ich durch die allmähliche, mühsame
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