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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Enthüllung heikelster Punkte aus der Geschichte unsres Hauses, durch das unvermutete Auftauchen eines verlorenen ungekannten Bruders. Sehr nah, wieder einmal allzu nah ging mir der fremde junge Mann, der da urplötzlich an den Gedächtnisspielen für einen früh verstorbenen namenlosen Bruder teilnahm;ich mußte ihn nicht kennen, um bei seinem Anblick zu zittern, unerträglich brannte mich seine Schönheit, ich schloß die Augen, um ihr nicht länger ausgesetzt zu sein. Er sollte alle Kämpfe gewinnen! Er gewann alle: den Faustkampf, den ersten Lauf, dann den zweiten, zu dem meine neidischen Brüder ihn mehr gezwungen als gebeten hatten. Diesen Kranz setzte ich ihm auf, man hatte es mir nicht abschlagen können. Mein ganzes Wesen kam ihm entgegen. Er bemerkte es nicht. Sein Gesicht schien mir verschleiert, so als sei nur sein Körper anwesend und ihm zu Willen, nicht aber sein Geist. Er war seiner selbst nicht inne. So blieb es, wenn ich es recht bedenke, ja, so blieb es. Doch ist diese Selbstfremdheit eines Prinzen der Schlüssel zu einem großen Krieg? Sie werden es so auslegen, fürchte ich. Sie brauchen diese persönlichen Gründe.
    Da ich mitten im Stadion war, mußte ich mir erzählen lassen, was inzwischen draußen geschah: die Abriegelung aller Ausgänge durch die Wachsoldaten des Königshauses – zum erstenmal hörte man, ein junger Offizier namens Eumelos habe sich dabei durch Umsicht und Konsequenz hervorgetan –, strenge Kontrollen. Drinnen, in meiner Nähe, ich sah es: Hektor und Deiphobos, meine beiden ältesten Brüder, drangen mit gezücktem Schwert auf den eher erstaunten als erschrokkenen Fremdling ein. Begriff er wirklich nicht, daß die Reihenfolge der Sieger bei den Spielen festlag; daß er ein Gesetz verletzt hatte? Er begriff es nicht.
    Dann, über dem drohend anschwellenden Summen des Stadions die durchdringende Stimme: Priamos! Dieser da ist dein Sohn. Und ich, warum nur, wußte im gleichen Augenblick: Das war die Wahrheit. Erst dann desVaters Handbewegung, die die Schwerter der Brüder lähmte. Das Kopfnicken der starren Mutter, nachdem der alte Hirte ihr ein Windelband gezeigt hatte. Und des Fremdlings bescheidene Antwort auf die Frage des Königs nach seinem Namen: Paris. – Unterdrücktes Gelächter der Geschwister: Tasche, Beutel hieß dieser neue Bruder. Ja, sagte der alte Hirte, die Tasche, in der er ihn, den Sohn des Königs und der Königin, als einen Winzling im Gebirge herumgetragen hatte. Er wies die Tasche vor, sie war so alt wie er selbst, wenn nicht älter. Dann, in einem jener jähen Umschläge, die für unsre öffentlichen Ereignisse bezeichnend sind (waren), der Triumphzug zum Palast, Paris in dessen Mitte. Halt. Glich dieser Zug nicht jenem andern, in dessen Mitte der weiße Opferknabe. Ich, wieder einmal stumm in der aufgeregt schnatternden Schar der Schwestern, weh und wund, aufgerissen.
    Ich hatte so eine Gier, diesmal, weil es um Paris ging, wollt ich alles herausfinden. Sagte auch so etwas, glaub ich. Peinlicherweise. Nun. Später hab ich nicht mehr geglaubt, daß die Ereignisse es mir schuldig seien, sich zu offenbaren. In diesen frühen Jahren lief ich ihnen nach. Stillschweigend voraussetzend, vor mir, als der Tochter des Königs Priamos, würden alle Türen und alle Münder aufspringen. Wohin ich kam, gab es dann keine Türen, nur Felle vor höhlenartigen Behausungen. Auch war mir meine angelernte Höflichkeit im Wege, die drei Hebammen, die den Paris, überhaupt fast alle Kinder der Hekabe aus dem Mutterschoß gezogen hatten – uralte, zottelige Weiber –, dringlich zu befragen. Ohne Marpessa, die mich führte, ohne meine Scham vor ihr wär ich umgekehrt. Zum erstenmal sah ich dieWohnhöhlen am Steilufer unsres Flusses Skamandros aus der Nähe, das gemischte Volk, das vor den Eingängen lagerte, die Ufer sprenkelte, im Fluß seine Wäsche wusch, unerfindlich, wovon es lebte; durch das ich wie durch eine Schneise des Schweigens ging, nicht bedrohlich, nur eben fremd, während Marpessa nach allen Seiten grüßte, von überall her Zurufe empfing, obszöne Männerwörter dabei, auf die sie in der Zitadelle scharf erwidert hätte, die sie hier lachend zurückgab. Kann die Tochter des Königs eine Sklavin beneiden? Ja wirklich, das waren so Fragen. Daß ich sie noch weiß. Das Schönste an Marpessa, sah ich, war ihr Gang, kräftig aus der Hüfte heraus bewegte sie die Beine, den Rücken gerade aufgerichtet, mühelos. Ihr dunkles Haar in zwei Zöpfen hochgesteckt.

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