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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Sie kannte auch das Mädchen, das die drei uralten Mütter betreute. Oinone, ein ganz junges Geschöpf von auffallendem Liebreiz, selbst für diese Gegend, die für die Schönheit ihrer Frauen berühmt war; »am Skamandros«, das war eine Formel unter den jungen Männern im Palast, wenn es Zeit für ihr erstes Mädchen war, ich hatte es bei den Brüdern aufgeschnappt.
    Stolz nannte ich den drei Hebammen meinen richtigen Namen, Marpessa hatte mir davon abgeraten. Wie. Mich sollten die drei Alten zum Narren halten! O die drei alten Vetteln. Einen Sohn des Priamos? Ha. Dutzende davon hätten sie auf die Welt gebracht. Neunzehn, berichtigte ich, damals hielt ich noch auf Familienehre. Die Zahl bestritten die Alten, stritten auch untereinander. Aber sie können nicht zählen, versicherte lachend Oinone. Oinone, Oinone, den Namen hörte ich doch nicht zum erstenmal? Wer sprach ihn sonstaus. Eine Männerstimme. Paris. – War ich ihr nicht schon im Palast begegnet? Immer wenn ich aus dem Weichbild der Zitadelle kam, geriet ich in diese undurchsichtigen, oft genug kränkenden Verhältnisse. Schroffer als nötig fragte ich die Mütter, warum nach ihrer Meinung einer, ein ganz bestimmter unter den Dutzenden von Söhnen des Priamos nicht habe aufgezogen werden sollen. Nicht aufgezogen? Das Wort selbst schienen die drei alten Heuchlerinnen nicht zu kennen. O nein, gewiß nicht. Das habe es zu ihrer Zeit nicht gegeben. Nicht daß sie wüßten. Bis eine, fast träumerisch, verlauten ließ: Ja, wenn Aisakos lebte! Aisakos? Blitzschnell stieß ich nach. Dreifaches Schweigen. Auch Oinone schwieg. Marpessa schwieg. Sie war, was denk ich da. Ist! – In meinem Leben die Schweigsamste.
    Auch der Palast. Ein Palast des Schweigens. Hekabe, ihren Zorn unterdrückend, schwieg. Parthena die Amme, ihre Angst offen zeigend, schwieg. Ich lernte, indem ich die Arten zu schweigen beobachtete. Viel später erst lernte ich selbst das Schweigen, welch nützliche Waffe. Das eine Wort, das ich kannte, drehte und wendete ich: Aisakos, bis plötzlich eines Nachts ein zweiter Name aus ihm herausfiel: Arisbe. War sie nicht des Aisakos Mutter gewesen. Ob es sie noch gab?
    Zum erstenmal erfuhr ich, was ich dann oft erprobte, daß die Vergessenen voneinander wissen. Ich traf, nicht ganz zufällig, die kluge Briseis, die Tochter des abtrünnigen Sehers Kalchas, der in Windeseile unter die Vergessenen gefallen war, auf dem großen Herbstmarkt vor den Toren Troias, auf dem der Ost-West-Handel blühte; und stellte ihr die törichte Frage, ob sie mich noch kenne. Wer kannte mich nicht. Briseis hatte ihrebesonders leuchtenden Webwaren ausgelegt. Sie, die schon früher überaus eigenwillig, auch leidenschaftlich gewesen war, ließ die Käufer stehn, um mir bereitwillig und unpersönlich zu beschreiben, wo ich Arisbe fand: auf dem gleichen Markt nämlich, in der Töpferzeile. Ich ging, fragte niemand, sah in die Gesichter: Arisbe sah aus wie ein älterer Aisakos. Kaum daß ich ihr nahe kam, murmelte sie, ich solle sie in ihrer Hütte besuchen, da und da, am Fuße des Ida-Bergs. Also war sie unterrichtet, daß ich kam. Also tat ich keinen unbeobachteten Schritt. Dabei fielen mir die Wächter des Priamos, die mir folgten, nicht einmal auf, ich war ein dummes junges Ding. Als einer sie mir zum erstenmal zeigte – Panthoos der Grieche natürlich –, spielte ich mich auf, lief zum Vater, stieß auf den König, die Maske. Bewacher? Wie ich darauf komme. Beschützer seien die jungen Burschen. Ob ich sie brauche, das müsse schon er entscheiden, nicht ich. Wer nichts zu verbergen habe, brauche das Auge des Königs nicht zu scheun.
    Zu Arisbe ging ich allein, soviel ich weiß.
    Wieder im Umkreis der Stadt diese Neben-, ja Gegenwelt, die, anders als die steinerne Palast- und Stadtwelt, pflanzenhaft wuchs und wucherte, üppig, unbekümmert, so als brauchte sie den Palast nicht, so als lebte sie von ihm abgewandt, also auch von mir. Man kannte mich, grüßte mich gleichmütig, ich aber grüßte eine Spur zu eilfertig zurück. Demütigend war es mir, dorthin um Auskünfte zu gehn, die der Palast mir verweigerte. »Verweigerte« habe ich lange gedacht, bis ich begriff, daß sie nicht verweigern konnten, was sie nicht hatten. Daß sie die Fragen nicht einmal verstanden, auf die ich Antwort suchte und die, mehr und mehr, meinen innigenZusammenhang mit dem Palast, mit meinen Leuten zerstörten. Ich merkte es zu spät. Das fremde Wesen, das wissen wollte, hatte sich schon zu weit

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