Kassandra
Liebeslust in einem Mann? Durfte unter Menschen das geduldet werden? Des Opfers starrer Blick. Das tänzelnde Herannahn des Verfolgers, den ich jetzt von hinten sah, ein geiles Vieh. Das Troilos, den Knaben, bei den Schultern nahm, das ihn streichelte – den Wehrlosen, dem ich Unglückselige den Panzer abgenommen hatte! – ihn befingerte. Lachend, alles lachend. Ihm an den Hals griff. An die Kehle ging. Die plumpe kurzfingrige haarige Hand an des Bruders Kehle. Pressend, pressend. Ich an des Mörders Arm gehängt, an dem die Adernstränge vortraten wie Schnüre. Des Bruders Augen aus den Höhlen quellend. Und in Achills Gesicht die Lust. Die nackte gräßliche männliche Lust. Wenn es das gibt, ist alles möglich. Es war totenstill. Ich wurde abgeschüttelt, spürte nichts. Nun hob der Feind, das Monstrum, im Anblick der Apollon-Statue sein Schwert und trennte meines Bruders Kopf vom Rumpf. Nun schoß das Menschenblut auf den Altar, wie sonst Blut aus den Rümpfen unserer Opfertiere. Das Opfer Troilos. Der Schlächter, schauerlich und lustvoll heulend, floh. Achill das Vieh. Ich fühllos lange Zeit.
Dann die Berührung. Eine Hand, die sich an meineWange legte, die so zum erstenmal im Leben ihr Zuhause hatte. Und ein Blick, den ich erkannte. Aineias.
Alles, was vorher war, war blasse Ahnung, unvollkommne Sehnsucht. Aineias war die Wirklichkeit, und wirklichkeitsgetreu, wirklichkeitssüchtig wollte ich mich an sie halten. Er könne hier zur Zeit nichts tun. Er gehe, sagte er. Geh, sagte ich. Ach er verstand es zu verschwinden. Ich rief ihn nicht, folgte ihm nicht und erkundigte mich nicht nach ihm. In den Bergen sei er, hieß es. Mancher verzog verächtlich das Gesicht. Ich verteidigte ihn nicht. Sprach nicht von ihm. War mit jeder Faser meines Leibs und meiner Seele bei ihm. Bin bei ihm. Aineias. Lebe. Den Rückhalt, den ich in dir habe, gebe ich nicht preis. Zuletzt hast du mich nicht verstanden, hast auch im Zorn den Schlangenring ins Meer geworfen. Doch soweit sind wir noch nicht. Das Gespräch mit dir kommt später. Wenn ich es brauchen werde. Ja, ich werd es brauchen.
Ich bestand darauf, als Zeugin für den Tod des Troilos im Rat gehört zu werden. Verlangte, diesen Krieg zu endigen, sofort. Und wie? fragten sie mich fassungslos, die Männer. Ich sagte: Durch die Wahrheit über Helena. Durch Opfer. Gold und Waren, und was sie wollen. Nur daß sie abziehn. Daß sich der Pesthauch ihrer Gegenwart entfernt. Zugeben, was sie fordern werden: Daß Paris, als er Helena entführte, schwer verletzte, was uns allen heilig ist, das Gastrecht. Als schweren Raub und schweren Treubruch müssen die Griechen die Aktion betrachten. So erzählen sie, was Paris tat, ihren Frauen, Kindern, Sklaven. Und sie haben recht. Beendigt diesen Krieg.
Gestandne Männer wurden totenbleich. Sie istverrückt, hört ich es flüstern. Jetzt ist sie verrückt. Und König Priamos der Vater erhob sich langsam, furchterregend und brüllte dann, wie ihn nie einer brüllen hörte. Seine Tochter! Sie, von allen sie mußte es sein, die hier im Rat von Troia für die Feinde sprach. Anstatt eindeutig, öffentlich und laut hier und im Tempel so wie auf dem Markt für Troia zu sprechen. Ich sprach für Troia, Vater, sagte ich noch leise. Ein Zittern konnte ich nicht unterdrücken. Der König schüttelte die Fäuste, schrie: Hätt ich denn Troilos’ des Bruders Tod so schnell vergessen! Hinaus mit der Person. Sie ist mein Kind nicht mehr. Die Hände wieder, der Geruch nach Angst. Ich wurde weggeführt.
Zur Sprache war im Rat, das hörte ich von Panthoos, noch der Orakelspruch gekommen, der in den Straßen Troias umlief: Troia könne den Krieg nur dann gewinnen, wenn Troilos zwanzig würde. Nun wußte jeder, Troilos war siebzehn, als er fiel. Kalchas der Seher, Kalchas der Verräter stehe hinter dem Gerücht, behauptete Eumelos. Da schlug ich einfach vor, so sagte es mir Panthoos, den Troilos nach seinem Tode durch Dekret für zwanzig zu erklären. Und Eumelos ergänzte, jeder solle unter Strafe stehn, der weiterhin behauptete, daß Troilos erst siebzehn war, als ihn Achill erschlug. Ich sagte: Mich müßtet ihr zuerst bestrafen. – Na und? sagte Panthoos. Warum denn nicht, Kassandra.
Da hat es mich zum erstenmal kalt angeweht.
Doch König Priamos hat sich zur Wehr gesetzt. Nein, habe er gesagt, den toten Sohn durch Lügen noch beleidigen? Nein. Ohne ihn. So hat es Zeiten gegeben, und ich kannte sie, da Tote heilig waren, jedenfalls bei uns. Die neue
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