Kassandra
erstenmal verspürte, erschütterte sie mich bis zum Grund, öffnete die Sperre in mir, die die Liebe zu den Kindern eines aufgezwungenen Vaters zurückhielt, mit einem Strom von Tränen brach sie hervor. Ich habe meine Kinder zum letztenmal angesehn, als der vierschrötige Agamemnon, über den roten Teppich stampfend, hinter der Türe des Palasts verschwand. Jetzt kein Blick mehr auf sie. Marpessa hat sie vor mir verhüllt.
Man könnte sagen, daß ich auch durch sie, um ihretwillen, den Vater verlor. Priamos der König hatte drei Mittel gegen eine Tochter, die ihm nicht gehorchte: Er konnte sie für wahnsinnig erklären. Er konnte sie einsperren. Er konnte sie zu einer ungewollten Heirat zwingen. Dies Mittel, allerdings, war unerhört. Nie war in Troia eine Tochter eines freien Mannes zur Ehe gezwungen worden. Dies war das Letzte. Als der Vater nach Eurypylos und seinem Heer von Mysern schickte, obwohl bekannt war, der wollte mich als Lohn zur Frau, da konnte jeder wissen: Troia war verloren. Nun war in mich, in Hekabe die Königin, in die unglückliche Polyxena, in alle Schwestern, ja in alle Frauen Troias der Zwiespalt gelegt, daß sie Troia hassen mußten, dessen Sieg sie wünschten.
So viele Brüder, soviel Kummer. So viele Schwestern, soviel Entsetzen. O über die furchtbare Fruchtbarkeit der Hekabe.
Wenn ich an Troilos, Hektor, Paris denke, blutet mir das Herz. Denk ich an Polyxena, hab ich Lust zu wüten. Wenn nichts mich überlebte als mein Haß. Wenn aus meinem Grab der Haß erwüchse, ein Baum aus Haß, der flüsterte: Achill das Vieh. Wenn sie ihn fällten, wüchse er erneut. Wenn sie ihn niederhielten, übernähme jeder Grashalm diese Botschaft: Achill das Vieh, Achill das Vieh. Und jeder Sänger, der den Ruhm Achills zu singen wagte, stürbe auf der Stelle unter Qualen. Zwischen der Nachwelt und dem Vieh ein Abgrund der Verachtung oder des Vergessens. Apollon, wenn es dich doch gibt, gewähre dies. Ich hätte nicht umsonst gelebt.
Doch sah ich, wie die, die auf dem Schlachtfeld waren, die Lügen derer, die den Kampf nicht kannten,allmählich glaubten, weil sie ihnen schmeichelten. Eins ist so gut aufs andre abgestimmt, oft war ich in Versuchung, die Natur des Menschen zu verachten. Die Frauen in den Bergen haben mir den Hochmut ausgetrieben. Nicht durch Worte. Dadurch, daß sie anders waren, ihrer Natur die Züge abgewannen, die ich kaum zu träumen wagte. Wenn ich die Zeit noch habe, sollte ich von meinem Körper reden.
Nach dem Tod des Troilos verlor Briseis, des Kalchas Tochter, beinahe den Verstand. So viele Frauen ich in diesen Jahren schreien hörte – der Briseis Schreie, als wir Troilos begruben, ließen unser Blut gerinnen. Lange ließ sie keinen zu sich sprechen und sprach selbst kein Wort. Das erste war ein leises »Ja«, als ich ihr die Botschaft ihres Vaters Kalchas überbrachte. Sie wollte, falls der König es gestattete, zu ihrem abtrünnigen Vater auf die andre Seite gehn. Der König, hatte ich den Eindruck, war ganz froh, dies ohne Zögern zu gestatten. Selbstverständlich gehörte eine Tochter, die in Trauer war, zu ihrem Vater, der sie liebte. Nicht ungern dachte ich, vermißte König Priamos den Anblick einer solchen Trauernden. Daß ihre Trauer die Moral zersetzte, hatt ich im Palast schon flüstern hören. Nun allerdings entrüstete sich Eumelos. Wie, fragte er tückisch, hielt der König des Blutes Bande für bedeutender als die des Staates! Freilich, sagte Priamos, er war der alte und ich liebte ihn. Was denn sonst. Und: Daß er mich im Rat verfluchte, zeigte es nicht, wie er an mir hing? Nein: Mir mußte man schon schärfer kommen, damit ich meinen Vater, den guten König Priamos, als einen Fremden von mir tat.
Ich ging, auch das schien allen einzuleuchten – allenaußer Eumelos –, als Freundin mit Briseis zu den Griechen, mit uns zwei meiner Brüder und fünf Krieger, alle unbewaffnet. Niemand von uns Troern zweifelte, daß einer Troerin, die zu ihrem Vater geht, ein würdiges Geleit gebührt. Aber die beinahe ängstliche Verwirrung dieser Griechen! Kalchas, nachdem er seine Tochter innig und behutsam begrüßt hatte, erklärte mir den befremdlichen Empfang. Niemals würde auch nur einer von ihnen waffenlos ins feindliche Lager gehn. Aber sie hätten in einem solchen Falle unser Wort, rief ich. Kalchas der Seher lächelte. Ein Wort! Stell dich um, Kassandra. Und je eher, desto besser. Hätte nämlich ich sie nicht erschreckt, sie hätten deine waffenlosen Brüder
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