Kassandra
Heiligtum. Wer immer jetzt dort steht, sieht auf die Küste, mit Trümmern, Leichen, Kriegsgerät bedeckt, die Troia einst beherrschte, und, wenn er sich umdreht, sieht er die zerstörte Stadt. Kybele hilf.
Marpessa schläft. Die Kinder schlafen.
Kybele hilf.
Damals begann, was dann Gewohnheit wurde: Ich stand und sah. Stand, als die andern Priester, unter ihnen Panthoos, in Panik gegen Troia fortgelaufen waren. Als Herophile, die alte unbeugsame Priesterin mit den Lederwangen, vor Grauen sich ins Innere des Tempels flüchtete. Ich stand. Sah, wie Bruder Hektor dunkleWolke, ach, in seinem Lederwams!, die ersten Griechen schlug, die von den Schiffen kamen, die, durch das flache Wasser watend, die Küste Troias zu gewinnen suchten. Auch die den ersten folgten, machten meine Troer nieder. Sollte Hektor recht behalten? Lautlos und entfernt genug, sah ich, sanken die Menschenpuppen um. Kein Fünkchen von Triumph in meinem Herzen. Dann freilich ging etwas ganz andres los, ich habe es gesehn.
Ein Pulk von Griechen, dicht bei dicht sich haltend, gepanzert und die Schilde um sich herum wie eine lükkenlose Wand, stürmte, einem einzigen Organismus gleich, mit Kopf und Gliedern, unter nie vernommenem Geheul an Land. Die äußersten, so war es wohl gemeint, wurden von den schon erschöpften Troern bald erschlagen. Die der Mitte zu erschlugen eine viel zu hohe Zahl der unsern. Der Kern, so sollte es sein, erreichte das Ufer, und der Kern des Kerns: der Griechenheld Achill. Der sollte durchkommen, selbst wenn alle fielen. Der kam auch durch. So macht man das, hörte ich mich fiebrig zu mir selber sagen, alle für einen. Was jetzt. Schlau ging er nicht auf Hektor los, den die andern Griechen übernahmen. Er holte sich den Knaben Troilos, der ihm von gut dressierten Leuten zugetrieben wurde wie das Wild dem Jäger. So macht man das. Mein Herz begann zu hämmern. Troilos stand, stellte sich dem Gegner, kämpfte. Und zwar regelrecht, so wie er es gelernt, wenn Edele mit Edlen kämpfen. Treulich hielt er sich an die Gesetze der Kampfspiele, in denen er seit Kindheit glänzte. Troilos! Ich bebte. Jeden seiner Schritte wußte ich voraus, jede Wendung seines Halses, jede Figur, die er mit seinem Leib beschrieb. Aber Achill. Achill das Vieh ließ sich auf des Knaben Angebot nicht ein.Vielleicht verstand ers nicht. Achill erhob sein Schwert, das er mit beiden Händen packte, hoch über den Kopf und ließ es auf den Bruder niedersausen. Für immer fielen alle Regeln in den Staub. So macht man das.
Troilos der Bruder fiel. Achill das Vieh war über ihm. Ich wollte es nicht glauben, glaubte es sofort, wie schon oft war ich mir dabei selbst zuwider. Wenn ich recht sah, würgte er den Liegenden. Etwas ging vor, was über meine, unsere Begriffe war. Wer sehen konnte, sah am ersten Tag: Diesen Krieg verlieren wir. Diesmal schrie ich nicht. Wurde nicht wahnsinnig. Blieb stehn. Zerbrach ohne es zu merken den Tonbecher in meiner Hand.
Das Schlimmste kam noch, kommt noch. Troilos, leicht gepanzert, war noch einmal hochgekommen, hatte sich den Händen des Achill entwunden, lief – ihr Götter! Wie er laufen konnte! – zuerst ziellos davon, dann – ich winkte, schrie – fand er die Richtung, lief auf mich, lief auf den Tempel zu. Gerettet. Den Krieg verliern wir, aber dieser Bruder, der mir in dieser Stunde als der liebste schien, der war gerettet. Ich lief ihm entgegen, packte ihn am Arm, zog den Röchelnden, Zusammenbrechenden herein, ins Innere des Tempels, vor das Bild des Gottes, wo er sicher war. Abgeschlagen keuchte Achill heran, den ich nicht mehr beachten mußte. Dem Bruder, der um Luft rang, mußte ich den Helm abbinden, den Brustpanzer lösen, wobei Herophile die alte Priesterin mir half, die ich nie vorher und nie nachher weinen sah. Meine Hände flogen. Wer lebt, ist nicht verloren. Auch mir nicht verloren. Dich werd ich pflegen, Bruder, lieben, endlich kennenlernen. Briseis wird froh sein, sagt ich ihm ins Ohr.
Dann kam Achill das Vieh. Des Mörders Eintritt in den Tempel, der, als er im Eingang stand, verdunkelt wurde. Was wollte dieser Mensch. Was suchte er bewaffnet hier im Tempel. Gräßlichster Augenblick: Ich wußt es schon. Dann lachte er. Jedes Haar auf meinem Kopf stand mir zu Berge, und in die Augen meines Bruders trat der reine Schrecken. Ich warf mich über ihn und wurde weggeschoben wie ein Ding aus Nichts. Wie näherte sich dieser Feind dem Bruder. Als Mörder? Als Verführer? Ja gab es das denn: Mörderlust und
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