Kassandra
Zeit hat weder Lebende noch Tote respektiert.Ich brauchte eine Weile, bis ich sie begriff. Sie war schon in der Festung, eh der Gegner kam. Sie drang, ich weiß nicht wie, durch jede Ritze. Bei uns trug sie den Namen Eumelos.
Da mache ich es mir zu leicht, belehrte Panthoos der Grieche mich. Unleidlich war mir seine Art geworden, sich hinter undurchsichtigen Belehrungen zu verstekken, doch war ich nicht in seiner Haut, der eines Griechen. Zornig fragte ich ihn einmal, ob er denke, ich werde ihn bei Eumelos denunzieren. Wie soll ich das wissen, fragte er und lächelte. Übrigens: Wessen könntest du mich denn bezichtigen. Wir wußten beide: Eumelos kam ohne Gründe aus. Natürlich hat er, Jahre später, Panthoos bekommen, durch die Weiber. Blind, blind bin ich gewesen, daß ich hinter seinem Spiel die Angst nicht sah.
Weil keine Zeit mehr ist, genügt die Selbstanklage nicht. Was hat mich blind gemacht, das muß ich mich doch fragen. Beschämend ist, ich hätte fest geglaubt, die Antwort läge lange schon in mir bereit.
Soll ich doch absteigen. Das Weidengeflecht ist hart, auf dem ich sitze. Ein Trost: Die Weiden sind an unserm Fluß gewachsen, am Skamander. Zu dem nahm mich Oinone mit, im Herbst nach Kriegsbeginn, Weiden holen. Aus ihnen sollte ich mein Lager machen. Sie töten die Begierden, sagte Oinone ernst. – Schickt dich Hekabe? – Arisbe, sagte sie. Arisbe. Was wußte diese Frau von mir. Auch sie selbst, sagt Oinone, habe auf Weiden gelegen, all die Monate, da Paris in der Ferne war. Des Aineias Namen sprach sie niemals aus. Zerstreut hörte ich ihre verzagte Klage über Paris, den die fremde Frau verdorben habe. Was hatte Arisbe mit mir vor. Wolltesie mich warnen? Mich züchtigen? Heulend vor Wut lag ich auf den Weiden. Sie halfen nicht. Unerträglich sehnte ich mich nach Liebe, eine Sehnsucht, die nur einer stillen konnte, darüber ließen meine Träume keinen Zweifel. Einmal nahm ich einen blutjungen Priester, den ich anlernte und der mich verehrte, zu mir auf mein Lager, wie man es fast von mir erwartete. Ich löschte seine Glut, blieb selber kalt und träumte von Aineias. Ich begann auf meinen Körper achtzugeben, der, wer hätte das gedacht, sich von Träumen leiten ließ.
Zweimal noch, fällt mir ein, hatte ich es mit der Weide zu tun: Als ich im Korb saß, allein, auch der aus Weiden geflochten, so dicht, daß kaum ein Lichtstrahl zu mir drang, und später, als die Frauen, ich mit ihnen, die Ferkel auf die Weidenruten in die Höhlen legten, für Kybele. Da war ich schon die Götter los. Die Weide, mein letzter Sitz. Mir unbewußt hat meine Hand begonnen, eine dünne Gerte aus dem Geflecht zu lösen. Angebrochen ist sie, doch sie bewegt sich kaum. Ich will, aufmerksamer nun, weiter an ihr ziehn und rütteln. Ich will sie freibekommen. Ich will sie mit mir nehmen, wenn ich hinunter muß.
Jetzt schlachtet die Frau Agamemnon.
Jetzt, gleich, geht es an mich.
Ich merke, daß ich, was ich weiß, nicht glauben kann.
So war es immer, wird es immer sein.
Daß es so schwer sein würde, hab ich nicht gewußt, auch wenn mich einmal das Entsetzen packte, daß wir spurlos vergehn, Myrine, Aineias, ich. Ich sagte es ihm. Er schwieg. Daß er keinen Trost wußte, tröstete mich. Er hat mir, als wir uns zum letztenmal sahen, seinenRing mitgeben wollen, diesen Schlangenring. Ich verneinte mit den Augen. Er warf ihn von der Klippe in das Meer. Der Bogen, den er blitzend in der Sonne beschrieb, ist mir ins Herz gebrannt. So Wichtiges wird nie ein Mensch von uns erfahren. Die Täfelchen der Schreiber, die in Troias Feuer härteten, überliefern die Buchführung des Palastes, Getreide, Krüge, Waffen, Gefangene. Für Schmerz, Glück, Liebe gibt es keine Zeichen. Das kommt mir wie ein ausgesuchtes Unglück vor.
Marpessa singt den Zwillingen ein Lied. Sie lernte es, wie ich, von Parthena der Amme, ihrer Mutter. Wenn das Kind schläft, heißt es, fliegt seine Seele, der schöne Vogel, zur silbernen Olive und dann langsam gegen Sonnenuntergang. Seele, schöner Vogel. Manchmal leicht wie die Berührung einer Feder, manchmal stark und schmerzhaft spürte ich seine Bewegungen in meiner Brust. Der Krieg griff den Männern in die Brust und tötete den Vogel. Erst als er auch nach meiner Seele griff, da hab ich »nein« gesagt. Merkwürdiger Einfall: Die Bewegungen der Seele in mir glichen den Bewegungen der Kinder in meinem Leib, ein leises Sichregen, ein Sichrühren wie im Traum. Als ich diese schwache Traumbewegung zum
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