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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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geworden ist, ist auch real. – So. Real wie Helena.
    Da warf er mich hinaus, zum zweitenmal. Das fing sich an zu häufen, war ich denn taub? Ich glaube, ja. Ich glaube, in gewissem Sinne ja. Ich hab esdurchgemacht, doch es mir selber zu erklären, ist noch immer schwer. Mit einem bißchen Wahrheitswillen, mit einem bißchen Mut sei doch das ganze Mißverständnis aus der Welt zu schaffen, glaubt ich immer noch. Was wahr ist, wahr zu nennen, und was unwahr falsch: das mindeste, so dachte ich, und hätte unsern Kampf weit besser unterstützt als jede Lüge oder Halbwahrheit. Denn es ging doch nicht an, so dachte ich, den ganzen Krieg und unser ganzes Leben – denn war der Krieg nicht unser Leben! – auf den Zufall einer Lüge aufzubaun. Es war doch ausgeschlossen, so dachte ich – kaum kann ich mich erinnern –, daß die reiche Fülle unsres Daseins auf eine störrische Behauptung gemindert werden sollte. Wir mußten uns doch bloß auf unsere troische Tradition besinnen. Wie war die aber? Worin bestand die doch? Bis ich begriff: In Helena, die wir erfanden, verteidigten wir alles, was wir nicht mehr hatten. Was wir aber, je mehr es schwand, für um so wirklicher erklären mußten. So daß aus Worten, Gesten, Zeremonien und Schweigen ein andres Troia, eine Geisterstadt erstand, in der wir häuslich leben und uns wohlfühln sollten. War ich es denn alleine, die dies sah. Wie im Fieber ging ich Namen durch. Der Vater. Nicht mehr anzusprechen. Die Mutter, die sich mehr und mehr verschloß. Arisbe. Parthena die Amme. Du, Marpessa. Da warnte etwas mich, nämlich die geheime Angst, unvorbereitet einen Blick in eure Welt zu tun. Lieber litt ich, blieb aber, wo ich war. Wo die Geschwister fraglos sich bewegten, als sei der Boden fest, auf den sie traten. Wo Herophile, die alte lederwangige Priesterin, inbrünstig Gaben weihte, den Beistand unsres Gotts Apoll für unsre Waffen zu erflehn. Unmöglich, daß des KönigsTochter und die Priesterin Zweifel am Königshause und am Glauben zu ihrer Dienerin und zu ihrer Amme trug. Schattenhaft tratet ihr, Marpessa, an den Rand meines Gesichtsfelds. Wurdet zu Schatten. Entwirklicht. Wie auch ich selbst, je mehr ich das, was der Palast des Eumelos befahl, für wirklich nahm. Dabei half dem Palast mehr noch als jeder andre unser bester Feind, Achill.
    In den Brennpunkt meines Blickes, aller Blicke rückten die Untaten des Tollwütigen, der sich mit seinem wüsten Trupp auf das Land um den Ida-Berg geworfen hatte – dahin, wo Aineias war! –, die Dörfer plünderte, die Männer niedermachte, die Frauen vergewaltigte, Ziegen und Schafe abstach, die Felder zertrampelte. Aineias! Ich flog vor Angst. Nach einem Monat kam er an der Spitze der Dardaner, die sich hatten retten können, in die Festung. Alles schrie und weinte, es war mein schönster Tag. Immer war es so, wenn wir die gleiche Luft atmeten, strömte in die Hülle, die mein Körper war, das Leben wieder ein. Ich sah die Sonne wieder, Mond und Sterne, das Silberblitzen der Olivenbäume im Wind, den metallischen Purpurglanz des Meeres, wenn die Sonne untergeht, die in allen Braun- und Blautönen wechselnden Farben der Ebene, wenn ich gegen Abend auf der Mauer stand. Der Duft der Thymianfelder kam herüber, ich spürte, wie weich die Luft war. Aineias lebte. Ich mußte ihn nicht sehen, konnte warten, bis er zu mir kam. Er wurde in den Rat gezogen, auf den Straßen Troias war ein lebhaftes, beinahe freudiges Treiben. Ein Wort ging um, das niemand erfunden haben wollte und das jedermann im gleichen Augenblick zu kennen schien: Wenn Hektor unser Arm ist, so ist Aineias Troias Seele. An allen Opferschreinenbrannten Dankesfeuer, ihm zu Ehren. Aber das sei verkehrt! hörte ich ihn zu Herophile, unserer Oberpriesterin, sagen. Dankt ihr den Göttern, daß sie unser Land verwüsten ließen! – Für deine Rettung danken wir, Aineias, sagte sie. – Unsinn. Meine Rettung folgte doch aus der Verwüstung durch den Feind. – Solln wir die Opferfeuer löschen? Die Götter noch mehr erzürnen? – Von mir aus. – Ich sah Aineias aus dem Tempel gehn. Der Streit blieb unbemerkt. Die Opfer liefen ab, ich wirkte an den Ritualen mit, wie es mein Amt gebot, Handreichungen, Gebärden, Worte ohne Sinn. Nachts blieb Aineias in den niederen Unterkünften, die man den Flüchtlingen zugewiesen hatte. Ich lag wach und quälte mich mit der Frage, ob er mich mit Herophile, der alten und verstockten Oberpriesterin, gleichsetzte. Ich trug für mich – und ihn

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