Kassandra
– zusammen, was uns unterschied. Dann staunte ich, daß es für einen Außenstehenden sehr wenig war. Daß der Unterschied, auf den ich mir soviel zugute hielt, auf meinen innern Vorbehalt zusammenschrumpfte. Dies konnte ihm, Aineias, nicht genügen. Genügte es denn mir?
Nach einer langen öden Zeit ohne Träume hatte ich nachts endlich wieder einen Traum. Er gehörte zu jenen Träumen, die ich gleich für bedeutsam hielt, nicht ohne weiteres verstand, doch nicht vergaß. Ich ging, allein, durch eine Stadt, die ich nicht kannte, Troia war es nicht, doch Troia war die einzige Stadt, die ich vorher je gesehn. Meine Traumstadt war größer, weitläufiger. Ich wußte, es war Nacht, doch Mond und Sonne standen gleichzeitig am Himmel und stritten um die Vorherrschaft. Ich war, von wem, das wurde nicht gesagt, zur Schiedsrichterin bestellt: Welches von den beidenHimmelsgestirnen heller strahlen könne. Etwas an diesem Wettkampf war verkehrt, doch was, das fand ich nicht heraus, wie ich mich auch anstrengen mochte. Bis ich mutlos und beklommen sagte, es wisse und sehe doch ein jeder, die Sonne sei es, die am hellsten strahle. Phöbus Apollon! rief triumphierend eine Stimme, und zugleich fuhr zu meinem Schrecken Selene, die liebe Mondfrau, klagend zum Horizont hinab. Dies war ein Urteil über mich, doch wie konnte ich schuldig sein, da ich nur ausgesprochen hatte, was der Fall war.
Mit dieser Frage bin ich aufgewacht. Beiläufig und mit falschem Lachen erzählte ich Marpessa meinen Traum. Sie schwieg dazu. Wie viele Tage war mir ihr Gesicht schon abgewandt. Dann kam sie, ließ mich ihre Augen sehn, die, so schiens mir, dunkler, tiefer geworden waren, und sagte: Das wichtigste an deinem Traum, Kassandra, war dein Bemühn, auf eine ganz und gar verkehrte Frage doch eine Antwort zu versuchen. Daran sollst du dich, wenn es dazu kommt, erinnern.
Wer sagt das. Wem hast du meinen Traum erzählt.
Arisbe, erwiderte Marpessa, als sei das selbstverständlich, und ich schwieg. Hatte ich insgeheim gehofft, ihr, Arisbe, werde mein Traum vorgelegt? War sie also für meine Träume zuständig? Ich wußte, daß in diesen Fragen schon die Antwort lag, und fühlte eine Regung in mir nach so langer Starre, die die ersten Monate des Kriegs verursacht hatten. Schon wieder war Vorfrühling, lange hatten uns die Griechen nicht mehr angegriffen, ich verließ die Festung, saß auf einem Hügel überm Fluß Skamander. Was hieß denn das: Die Sonne strahlte heller als der Mond. War denn der Mond zum Hellerstrahlen überhaupt bestimmt? Wer gab mirsolche Fragen ein? So war ich, wenn ich Arisbe recht verstand, berechtigt, ja vielleicht verpflichtet, sie zurückzuweisen. Ein Ring, der äußerste, der mich umschlossen hatte, zersprang, fiel von mir ab, viele blieben. Ein Atemholen war es, ein Lockern der Gelenke, ein Aufblühn des Fleisches.
Bei Neumond kam Aineias. Merkwürdig, daß Marpessa nicht, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, im Vorraum schlief. Nur einen Augenblick lang sah ich sein Gesicht, als er das Licht ausblies, das neben der Tür in einem Ölbad schwamm. Unser Erkennungszeichen war und blieb seine Hand an meiner Wange, meine Wange in seiner Hand. Wir sagten uns kaum mehr als unsre Namen, ein schöneres Liebesgedicht hatte ich nie gehört. Aineias Kassandra. Kassandra Aineias. Als meine Keuschheit seiner Scheu begegnete, wurden unsre Körper toll. Was meinen Gliedern einfiel auf die Fragen seiner Lippen, welch unbekannte Sinne sein Geruch mir schenken würde, hatte ich nicht ahnen können. Und welcher Stimme meine Kehle fähig war.
Doch Troias Seele sollte nicht in Troia sein. Sehr früh am nächsten Morgen ging er mit einer Schar Bewaffneter – daß es Dardaner waren, seine Leute, hatte er sich erkämpfen müssen – aufs Schiff, welches für lange Zeit die letzten Waren an die Schwarzmeerküste brachte. Ich glaube – und verstand ihn, doch verstand ihn nicht –, daß Aineias lieber ging als blieb. Schwer war es allerdings, sich ihn und Eumelos an einem Tisch zu denken. Halt dich an meinen Vater, hat er mir eingeschärft. Für viele Monate entschwand er mir. Die Zeit schien langsamer zu laufen, blaß und schemenhaft blieb sie mir im Gedächtnis, unterteilt nur durch die großen Rituale,an denen ich mitzuwirken hatte, und die öffentlichen Orakelverkündigungen, zu denen unser Volk, der Tröstung sehr bedürftig, zusammenströmte. Bruder Helenos und der Poseidon-Priester Laokoon, ein würdiger Mann, waren die beliebtesten
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