Kassandra
selbst, und hatte Spaß daran, nicht Ekel, wie Panthoos. Anchises war, nein: ist ein freier Mensch. Auch über die ihm übel wollen, denkt er unbefangen nach. Zum Beispiel Eumelos. Nie wäre mir doch in den Sinn gekommen, vorurteilsfrei und heiter über Eumelos zu reden. Ihn nicht zu fürchten und zu hassen, sondern zu verstehn und Mitleid für ihn zu empfinden. Nehmt doch bloß mal, forderte Anchises, daß er keineFrau hat. Jaa – ihr Frauen ahnt nicht, was das einem Mann bedeutet. Daß er Sklavinnen zwingen muß, ihm beizuwohnen. Daß er eure Schadenfreude riecht. Ein Mann wie der riecht doch, was um ihn her passiert. Der ist doch, wie wir alle, nur darauf aus, dahin zurückzukehren, wo es ihm einmal gutgegangen ist: unter eure Röcke. Das verwehrt ihr ihm. Da rächt er sich, so einfach ist das. Etwas Entgegenkommen eurerseits, und er ist geheilt, wer weiß.
Wie wir auf ihn losgegangen sind. Das Böse als Mangel? Als Krankheit? Heilbar also? Nun, mag sein, gab er dann zu, nicht mehr bei Eumelos. Doch dabei bleibe er: Der Mensch sei ein Produkt von Troia, genau wie – sagen wir, der König Priamos. Anchises vertrat lachend die ungeheuerlichsten Dinge, aber hier ging er zu weit. Eumelos war, rief ich, eine Fehlentwicklung, etwas wie ein Unfall, ein Versehen der Götter, wenn es das gäbe. Wenn es sie gäbe. Während Priamos… Während Priamos, sagte Anchises trocken, nichts weiter tut, als Eumelos in seine Ämter einzusetzen. Stimmts? Auch eine Fehlentwicklung? – Allerdings. – Ein Zufall, also?
Was war dazu zu sagen. O wie ich mich sträubte, zuzugeben, daß Priamos und Eumelos ein Paar warn, das einander brauchte. Für Wochen mied ich den Anchises, bis Unglaubliches geschah: Die Palastwache verwehrte Hekabe der Königin die Teilnahme an den Sitzungen des Rats. Jetzt, dachte ich, als ich es hörte, jetzt stürzt die Ordnung im Palast zusammen, und staunte selbst, daß ich nicht nur angstvoll, auch entzückt auf die Veränderung gespannt war, die nun unausweichlich wurde. Nichts geschah. Blicklos, berichtete die Mutter Hekabe in Anchises Hütte, wohin ich atemlos gelaufenkam: blicklos seien alle Männer an ihr vorbei zum Rat gegangen. Auch mein Sohn Hektor, sagte bitter Hekabe. Ihm trat ich in den Weg. Maß ihn mit Blicken, nun, ihr wißt ja, wie ich blicken kann. Versteh doch, Mutter, sagte er. Man will dich schonen. Was jetzt, im Krieg, in unserm Rat zur Sprache kommen muß, ist keine Frauensache mehr.
Freilich, sagte Anchises: Das wird nun Kindersache.
Alles, was sie bedrückte, besprach nun Hekabe die Königin mit ihm. Mir war es nicht geheuer, meine Mutter und den Vater des Aineias auf vertrautem Fuß zu sehen. Aber ich gestand ihr zu: Alles wurde leichter mit Anchises. Er verehrte Hekabe, man sah, er hätte sie nicht weniger verehrt, wenn sie nicht des Königs Frau gewesen wäre. Mir kam er entgegen wie einer sehr geliebten und geachteten Tochter, doch sprach er nicht von seinem Sohn Aineias, eh ich selber von ihm sprach. Sein Zartgefühl war unantastbar wie seine Heiterkeit. Nicht nur mit dem beweglichen Gesicht, mit seinem ganzen hohen kahlen Schädel drückte er aus, was er empfand. Oinone, die ihn liebte wie einen Vater, pflegte zu sagen: Sein Mund lacht, aber seine Stirn ist traurig. Oder man mußte nur auf seine Hände sehn, die beinahe immer ein Stück Holz bearbeiteten, wenigstens betasteten, wobei seine Augen plötzlich lauschen konnten, um zu erfahren, welche Eigenschaft oder Gestalt in diesem Holz verborgen war. Nie ließ er einen Baum fällen, ohne sich vorher ausführlich mit ihm zu besprechen, nie ohne ihm vorher mit einem Samen oder Reis, das er von ihm gewann und in die Erde senkte, sein Weiterleben zuzusichern. Über Holz und Bäume wußte er alles, was es zu wissen gab. Und die Figuren, die er schnitzte,wenn wir zusammenhockten, und die er dann wie eine Auszeichnung verschenkte, wurden unter uns zum Erkennungszeichen. Kamst du in ein Haus und fandest Schnitzwerk von Anchises, Tier oder Mensch, so wußtest du, du konntest offen reden, konntest in jeder Angelegenheit, und sei sie noch so heikel, um Hilfe bitten. So versteckten wir Myrine, als die Griechen alle Amazonen niedermetzelten, und manche ihrer Schwestern in Hütten, in deren Vorraum ein Kälbchen, eine Ziege oder ein Schwein aus Holz von unserem Anchises stand. Wortlos zogen die Frauen sie zum Feuer, warfen ihnen ein Stück Kleidung über, schwärzten ihre Wangen, drückten ihnen, die Frauenarbeit gar nicht kannten, eine
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