Kassandra
Orakelsprecher, doch ich konnte mir nicht verhehlen, daß sie leeres Geschwätz verbreiteten. Helenos, eher verwundert über meinen Unwillen, wollte nicht bestreiten, daß es so etwas wie bestellte Orakel gab. Von wem bestellt. Nun: vom Königshaus; vom Tempel. Was focht mich an. So war es immer gewesen, denn die Orakelsprecher waren die Münder derer, welche sie bestellten und die beinahe wie die Götter selber göttlich waren. Wie selten, das müßte gerade ich doch wissen, ließ ein Gott sich herab, durch uns zu sprechen. Aber wie häufig brauchten wir der Götter Rat. Wem schadete es also, wenn er, Helenos, verkündete, die Griechen würden niemals unsre Stadt erobern, es sei denn durch das schwächste Tor, das Skäische? Was er übrigens, subjektiv gesprochen, auch für wahr hielt und was die sehr erwünschte Wirkung habe, die Wachen am Skäischen Tor in ihrer Wachsamkeit noch zu bestärken. Oder Laokoon. Aus den Eingeweiden des letzten Opferstieres habe er herausgelesen, nur wenn zehn von den zwölf weißen Pferden unsres königlichen Marstalls in die Hand der Griechen kämen, geriete Troia in Gefahr. Ein undenkbarer Fall. Doch nun sei auch die rechte Flanke innerhalb der Festung – dort, wo der Marstall war – besonders sicher. Was ich um alles in der Welt dagegen hätte.
Nichts, konnte ich nur sagen. Wie soll ich das erklären. Helenos war ein leichtsinniger Mensch, doch kein Täuscher. Er, der Gleichaltrige, Hübsche, zu dem ichmich immer gern herablassend verhielt, mir überlegen. Wodurch. Durch seinen Glauben, zweifellos. An die Götter? Nein. Daß wir im Recht waren, doppelt im Recht, wenn wir der Götter Wort zu uns herniederzwangen. Er handelte und sprach in gutem Glauben, daß die Welt genauso war, wie er sie verkündete. Niemand hat ihm einen Zweifel beibringen können, nie sah ich auch nur den Schatten jenes Lächelns auf seinem Gesicht, das sich in die Mundwinkel des Panthoos inzwischen eingegraben hatte. Seine Beliebtheit nahm er an, wie die Leute es gerne haben: leichthin, als ihm gebührend, und ohne sie und sich unnötig zu belasten. Merkwürdig gut verstand er sich mit Hektor, von dem er überraschend eines Tags verkündete, er werde Troias Ruhm durch alle Zeiten tragen. Andromache, seit Beginn des Krieges Hektors Frau, treu, häuslich, eher unscheinbar, heulte sich die Augen aus dem Kopf. Sie kam zu mir gelaufen, wie die Leute es sich angewöhnt hatten, um mir ihre Träume zu erzählen. Hektor aber träumte, sagte mir Andromache, aus dem warmen Schoß einer Hündin sei er durch eine entsetzliche Enge in die Welt gestoßen worden und alsbald gezwungen, sich aus dem beschützten und beleckten kleinen Hündchen in einen reißwütigen Eber zu verwandeln, der gegen einen Löwen antritt und von dem – bei sengender Sonne! – überwältigt und zerrissen wird. In Tränen gebadet, vertraute Andromache mir an, sei ihr Mann erwacht. Er sei doch nicht der Mensch, aus dem man Helden macht. Bei Hekabe solle ich um der Götter willen für ihn bitten, er sei ihr Lieblingssohn, das wisse jeder.
Was war doch mein ältester Bruder für ein Kind geblieben. Ich hatte einen Zorn auf Hekabe, die ihnverzärtelt und so klein gehalten hatte, und fand es recht und billig, daß sie für ihn eintrat. Zu meiner großen Überraschung saß Anchises bei ihr, des Aineias sehr geliebter Vater. Es gab keinen Zweifel, Hekabe die Mutter hatte ihn zu ihrem Trost bestellt, da sie für Hektor nichts, gar nichts tun konnte, sie bauten ihn zum Ersten Helden auf. Hektor, »dunkle Wolke«! Unter meinen Brüdern gab es etliche, die sich besser dazu eigneten, im Kampf voranzugehn, als er. Doch Eumelos wollte die Königin treffen, in ihrem Lieblingssohn. Bewährte er sich nicht als Held, so wurde er und mit ihm seine Mutter das Gespött der Stadt. Ging er, so wie man es verlangte, als der erste in den Kampf, so fiel er, früher oder später. Verfluchter Eumelos. Hekabe sah mich an und sagte: Verfluchter Krieg. Wir schwiegen, alle drei. Mit diesem Schweigen, an dem mehrere beteiligt sind, so lernte ich, beginnt Protest.
Anchises. Wär Anchises hier. Wäre er bei mir, alles wäre zu ertragen. Er ließ die Angst nicht zu, daß irgend etwas, was auch geschehen mochte, unerträglich sei. Ja, es gebe Unerträgliches. Doch warum es fürchten, lange eh es da ist! Warum nicht einfach leben, und wenn möglich, heiter. Heiterkeit, das ist das Wort für ihn, allmählich sah ich auch, woher sie kam: Er durchschaute die Leute, vor allem sich
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