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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Spindel, einen Löffel in die Hand, nahmen auch ihr jüngstes Kind vom Lager und setzten es der abgehetzten Fremden auf den Schoß. Nie hat eine Familie, der Anchises eine Figur gegeben, uns enttäuscht. Er kannte Menschen. Auch zu seiner Hütte unterm Feigenbaum vor dem Dardanischen Tor kam nur, wer zu ihm paßte. Übrigens, er sprach mit jedem, keinen, der ihn besuchen wollte, wies er ab. Er empfing auch Andron, den jungen Offizier des Eumelos, der uns durchsuchen ließ, als wir Briseis abgeliefert hatten. Das ging mir sehr gegen den Strich; sollte Hekabe, die häufig kam, um Anchises nicht zuzumuten, in den Palast zu ihr zu kommen; sollten Oinone, Parthena die Amme, sollten Marpessa oder gar Arisbe diesem Menschen hier begegnen! Warum nicht, sagte Anchises ungerührt. Besser hier als anderswo. Sprich doch mit ihm. Was kostets dich. Eh er tot ist, soll man keinen Menschen für verloren geben. Ich schämte mich, ohne ihm zuzustimmen. Mit Göttern hatte er, soviel ich sehen konnte, nichts zu tun. Dochglaubte er an Menschen. Wenn es danach ging, so war er jünger als wir alle. Bei ihm, unter dem wechselnden Laub des mächtigen Feigenbaumes, hat unser ungezwungenes Leben angefangen, mitten im Krieg, ganz schutzlos, inmitten der immer noch anwachsenden Schar bis über den Kopf Bewaffneter. Während vor meinem ungläubigen Blick die innere Ordnung des Palastes sich veränderte, die ich für ewig hielt, so wie auf einem Fluß die kleinern Hölzer, Strohhalme und Gräser, die er mit sich führt, der stärkeren Strömung folgen. Die stärkere Strömung war die Partei des Königs, zu der ich, seine Tochter, also nicht gehörte. Sondern die aus jüngern Leuten sich zusammensetzte, die in Gruppen gingen, laut sich äußerten, wenn sie beisammen waren, sich ständig von den anderen angegriffen fühlten, sich gegen Anwürfe verteidigen zu müssen glaubten, die gar nicht laut geworden waren, und auch eilfertige Leute fanden, Barden, Schreiber, die ihnen für ihr peinliches Gehabe die Redensarten lieferten. »Sein Gesicht wahren« die eine. »Keine Wirkung zeigen« eine andere. Anchises schüttelte sich vor Lachen. Was heißt denn das! rief er. Als ob man sein Gesicht nicht wahren könnte. Oder geben sie uns ohne es zu wissen zu verstehn, ihre Gesichter, die sie für gewöhnlich zeigen, sind gar nicht ihre? Dummköpfe.
    Wirklich. Alles wurde leichter mit Anchises. Denn wie ich aus dem Bereich des Feigenbaumes mich entfernte, hatte ichs schwer, jedenfalls kam es mir so vor. Ein Teil von mir, der freudige, freundliche, unbefangene blieb dort, außerhalb der Zitadelle, bei »ihnen«. »Sie« sagte ich von den Leuten um Anchises, nicht »wir«, wir zu sagen war mir noch nicht erlaubt. Schwankendund gebrechlich und diffus war das »Wir«, das ich, solange es nur ging, benutzte. Es schloß den Vater ein, aber schloß es mich noch ein? Doch ein Troia ohne König Priamos den Vater gab es für mich nicht. Schweren Herzens kam der Teil von mir, der königstreu, gehorsam, übereinstimmungsbesessen war, jeden Abend in die Burg zurück. Durchsichtig, schwächlich, immer unansehnlicher wurde mein Wir, an dem ich festhielt, unfühlbarer daher für mich selbst mein Ich. Und dabei war ich für die Leute alles andre als unkenntlich, ihnen war klar und sie hatten es festgelegt, was ich war, eine Prophetin und Traumdeuterin. Eine Instanz. Wenn die Aussicht auf die Zukunft, wenn ihre eigne Ohnmacht sie bedrängte, kamen sie zu mir. Polyxena, die geliebte Schwester, hatte damit angefangen, ihr folgten ihre Freundinnen, die Freundinnen der Freundinnen. Ganz Troia träumte und unterbreitete die Träume mir.
    Ja. Ja. Ja. Jetzt werd ich mit mir selbst von Polyxena sprechen. Von jener Schuld, die nicht zu tilgen ist, und würde Klytaimnestra mich zwanzigmal erschlagen. Polyxena war der letzte Name zwischen Aineias und mir, unser letztes, vielleicht einziges Mißverständnis. Ihretwegen, glaubte er, könne ich nicht mit ihm gehn, und versuchte mich zu überzeugen, daß ich der toten Schwester nicht mehr helfen würde, wenn ich blieb. Aber wenn ich etwas wußte, war es doch das. Wir hatten nicht die Zeit, über meine Weigerung, mit ihm zu gehn, die nicht die Vergangenheit betraf, sondern die Zukunft, uns gründlich auszusprechen. Aineias lebt. Er wird von meinem Tod erfahren, wird, wenn er der ist, den ich liebe, sich weiter fragen, warum ich das wählte, Gefangenschaft und Tod, nicht ihn. Vielleicht wird erauch ohne mich begreifen, was ich, um den Preis des

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