Kassandra
lautlos und entfernt den Himmel überfliegt und ihn verwandelt, unmerklich fast, aber mein Auge, das die Himmel alle kennt, ist nicht zu täuschen: So beginnt der Abend.
Die Zeit wird knapp. Was muß ich noch wissen.
Polyxena habe ich verachten müssen, weil ich mich selber nicht verachten wollte. Das kann nicht sein. Aber ich weiß: So ist es. Wozu leb ich noch, wenn nicht, um zu erfahren, was man nur vor dem Tod erfährt. Polyxena, glaube ich, ging so über jedes Maß furchtbar zugrunde, weil nicht sie des Königs Lieblingstochter war,sondern ich. Weil dies der Satz war, aus dem heraus ich viel zu lange lebte. Der stimmen mußte. Der nicht angetastet werden durfte. Wem sonst noch hat sie ihr Geheimnis anvertraut, als mir der Schwester, mir der Seherin. Was nützt es ihr, was mir, jetzt jenen Satz zu wiederholen, den ich aus Schwäche damals fand: Ich bin auch nur ein Mensch. Was soll das »nur«. Ich war überfordert, das ist wahr. Sie, Polyxena, hat mir zuviel zugemutet, weil ihr zuviel zugemutet worden war. Um es kurz zu machen, während sie bei Andron schlief, begann sie von König Priamos zu träumen. Selten zuerst, aber stets das gleiche, dann häufiger, am Ende jede Nacht. Es war mehr, als sie ertragen konnte, in ihrer Not kam sie doch wieder zu mir. Der Vater tue ihr im Traum Gewalt an. Sie weinte. Niemand kann für seine Träume, aber man kann verschwiegen sein. Das gab ich der Schwester zu verstehen. Ich glaube, daß ich vor Empörung zitterte. Polyxena brach zusammen. Ich pflegte sie und sorgte, daß sie schwieg. Dies war die Zeit, da ich Aineias nicht empfangen konnte und er auch von allein nicht kam. Ich hörte auf, Anchises zu besuchen. In meinen Eingeweiden saß ein Tier, das fraß an mir und trieb mich um, später fand ich seinen Namen: Panik. Und nur im Tempelbezirk fand ich Ruhe.
Inbrünstig, so mußte es scheinen, verlor ich mich an die Zeremonien, vervollkommnete meine Techniken als Priesterin, lehrte die jungen Priesterinnen das Sprechen im Chor, das ja nicht einfach ist, genoß die weihevolle Atmosphäre an den großen Feiertagen, die Abgeschiedenheit der Priester von der Masse der Gläubigen, die führende Teilnahme an dem großen Schauspiel; die fromme Scheu und die Bewunderung in den Blickender einfachen Leute; die Überlegenheit, die mein Amt mir gab. Ich brauchte es, dabeizusein und zugleich nicht betroffen. Denn an die Götter zu glauben, hatte ich inzwischen aufgehört.
Außer Panthoos, der mich beobachtete, hat niemand das bemerkt. Seit wann ich mich ungläubig nennen mußte, könnte ich nicht sagen. Wär es ein Schreck gewesen, etwas wie Bekehrung, ich könnte mich erinnern. Aber der Glaube wich allmählich von mir, so wie manchmal eine Krankheit weicht, und eines Tages sagst du dir, du bist gesund. Die Krankheit findet keinen Boden mehr in dir. So auch der Glauben. Welches wäre denn sein Boden noch gewesen. Als erstes fällt mir Hoffnung ein. Als zweites Furcht. Die Hoffnung hatte mich verlassen, Furcht kannt ich noch. Doch Furcht alleine hält die Götter nicht, sie sind sehr eitel, man soll sie auch lieben; der Hoffnungslose liebt sie nicht. Damals begann mein Gesicht sich zu verändern. Aineias war nicht da, man hatte ihn, wie üblich, weggeschickt. Ich fand, es hatte keinen Sinn, etwas von dem, was in mir vorging, irgendeinem Menschen mitzuteilen. Wir mußten diesen Krieg gewinnen, und ich, des Königs Tochter, glaubte immer weniger daran. Ich stak fest. Mit wem sollte ich das besprechen.
Dazu kam, der Verlauf des Krieges schien mir nicht recht zu geben. Troia hielt stand. Dies Wort war schon zu groß, denn eine Zeitlang war es nicht bedroht. Die Griechen plünderten die Inseln und von uns entfernte Küstenstädte. Hinter ihrer starken Holzwehr ließen sie nur ein paar Schiffe, Zelte, wenig Wachmannschaft zurück – zu stark, um von uns vernichtet zu werden, zu schwach, uns anzugreifen. Gerade die Gewöhnung anden Zustand war es, die mir die Hoffnung nahm. Wie konnte ein Troer lachen, wenn der Feind vor seiner Türe lauerte. Und Sonne. Immer Sonne. Phoibos Apollon, finster strahlend, übermächtig. Immer dieselben Orte, zwischen denen mein Leben sich verlief: Das Heiligtum. Der Tempelhain, dürr in diesem Jahr, der Skamander, der unsern Garten sonst bewässerte, war ausgetrocknet. Meine Hütte aus Lehm, mein Lager, Stuhl und Tisch – die Unterkunft für Zeiten, wenn ich durch Tempeldienst an den Bezirk gebunden war. Der Weg zur Festung, leicht bergan, immer begleitet von
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