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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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zwei Wachsoldaten, die in zwei Schritt Abstand mir zu folgen hatten und nicht mit mir sprachen, weil ich mir das verbeten hatte. Das Tor in der Mauer. Der Ruf der Wachen, immer ein andres törichtes Losungswort, dem die Wächter oben töricht Antwort gaben. Nieder mit dem Feind! – Ins Nichts mit ihm!, in dieser Art. Dann die Fixierung durch den Offizier der Wache. Das Zeichen, daß das Tor geöffnet wurde. Immer der gleiche langweilige Weg zum Palast, immer die gleichen Gesichter vor den Häusern der Handwerker. Und wenn ich den Palast betreten hatte, die immer gleichen Gänge, die zu den immer gleichen Räumen führten, nur daß die Leute, die ich traf, mir immer fremder schienen. Bis heute weiß ich nicht, wie mir entgehen konnte, daß ich eine Gefangene war. Daß ich arbeitete, wie Gefangene arbeiteten, gezwungen. Daß meine Glieder sich nicht mehr von allein bewegten, daß mir auf Gehen, Atmen, Singen die Lust vergangen war. Für alles brauchte ich einen langwierigen Entschluß. Steh auf! befahl ich mir. Geh jetzt! Und wie mich alles anstrengte. Die ungeliebte Pflicht in mir fraß alle Freude auf. Nicht nur fürden Feind, auch für mich war Troia uneinnehmbar geworden.
    Durch dieses starre Bild laufen Gestalten. Viele namenlos – das war die Zeit, in der ich Namen schnell vergaß und Schwierigkeiten hatte, neue zu erlernen. Auf einmal gab es viele alte Leute, alte Männer. Ich traf sie in den Gängen des Palasts, die sonst wie ausgestorben lagen, Mumien, halbe Krüppel, die Sklaven mühsam vorwärtsschoben. Die gingen in den Rat. Dann sah ich auch die Brüder, die sonst bei der Truppe waren, Hektor dunkle Wolke, der mich immer ansprach, hören wollte, wie es mir, wie es den Frauen gehe, Andromache, die er sehr liebte, unserm Schutz befahl. Und Paris, zermalmt, schief lächelnd, nur noch die Hülle seiner selbst, aber schärfer denn je. Man sagte mir, der gehe über Leichen – nicht Griechenleichen; Troerleichen, ein gefährlicher Mensch. Eine Scharte nach der andern hatte der auszuwetzen, sein Leben lang. Mit dem war nicht zu rechnen. (Ja. Damals begann ich wie unter Zwang die Leute, die ich traf, für einen Notfall, den ich noch nicht kannte, einzuteilen: Mit dem ist zu rechnen, mit dem nicht. Wofür? Das wollte ich nicht wissen. Später stellte sich heraus, ich hatte mich nicht oft geirrt.)
    Und König Priamos, der Vater. Das war ein Fall für sich, ein Fall für mich. Er wurde brüchig. Das war das Wort. König Priamos zerbröckelte, je mehr er gezwungen wurde, den König herauszukehren. Starr saß er bei den großen Feiern in der Halle, neuerdings erhöht neben, über Hekabe und hörte auf die Gesänge, die ihn priesen. Ihn und der Troer Heldentaten. Neue Sänger waren nachgewachsen, oder die alten, wenn sienoch geduldet wurden, änderten den Text. Die neuen Texte waren ruhmredig, marktschreierisch und speichelleckerisch, es war doch unmöglich, daß nur ich das merkte. Ich sah mich um; die glanzlosen Gesichter. Sie hatten sich im Zaum. Hatten wir das nötig. Ja, sagte Panthoos, mit dem ich, weil ich sonst keinen hatte, wieder manchmal sprach. Er ließ mich den Inhalt der Anweisung wissen, die gerade an die Oberpriester aller Tempel ergangen war: Der Schwerpunkt aller Feiern sei von den toten Helden auf die Lebenden zu verlegen. Ich war betroffen. Auf der Verehrung der toten Helden beruhte unser Glauben, unser Selbstgefühl. Auf sie beriefen wir uns, wenn wir »ewig« und »unendlich« sagten. Ihre Größe, die wir für unerreichbar hielten, machte uns Lebende bescheiden. – Das war der Punkt. Glaubst du denn, sagte Panthoos, bescheidene Helden, die erst nach ihrem Tode hoffen können zu Ruhm zu kommen, sind die richtigen Gegner für die unbescheidnen Griechen? Hältst du’s für klug, die lebenden Helden nicht zu besingen, dafür die toten, und damit preiszugeben, wie viele schon getötet sind? – Aber, sagte ich, seht ihr denn nicht, um wieviel gefährlicher es ist, leichtfertig an den Grund unsrer Zusammengehörigkeit zu rühren! – Und das sagst ausgerechnet du, Kassandra, sagte Panthoos. Glaubst selbst an nichts. Genau wie Eumelos und seine Leute, die hinter allem stecken. Oder wo liegt der Unterschied.
    Kühl wies ich ihn zurecht. Wollte der Grieche die Troerin tadeln? Wie konnte ich ihm, oder mir, beweisen, daß er unrecht hatte. Nachts schlief ich nicht. Die Kopfschmerzen begannen. Was glaubte denn ich?
    Jetzt, wenn du hören kannst, hör zu, Aineias. Damitsind wir nicht zu Ende gekommen. Das

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