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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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mir zumute war. Aineias kommt, sagte er leise. Weißt du es schon? Da schlug mir warmes Blut bis ins Gesicht. Aineias kam. Sein Schiff kam durch. Ich lebte. Aineias war bedrückt. Man hatte ihn ganz in den Krieg hineingezogen.Er brachte Hoffnung auf Verstärkung. Die Griechen mußten hingehalten werden. Zweikämpfe zwischen einigen von ihnen und einigen unsrer Männer fanden statt, Kampfspiele eigentlich, nach Regeln, die die Griechen akzeptierten. Ganz Troia stand auf der Mauer und sah dem Zweikampf zwischen unserm Hektor und Groß Aias zu, ein besonderes Vergnügen, weil wir sahen: Hektors zähes Training hatte sich gelohnt. Hektor dunkle Wolke war ein Kämpfer, der sich mit jedem messen konnte. Hekabe ging weg, weißen Gesichts. Die beiden Helden tauschten ihre Waffen, und die Törichten von den Mauern klatschten Beifall. Unglückswaffen. Das Gehenk des Aias hat Achill das Vieh benutzt, um Hektor anzukoppeln, als er ihn um die Zitadelle schleifte. Und Hektors Schwert brauchte Groß Aias, als er, vom Wahnsinn umgetrieben, Selbstmord machte.
    Die Dinge glitten uns aus der Hand und richteten sich gegen uns. Da maßen wir ihnen übertriebene Bedeutung zu. Mit welchem Aufwand wurden Schild, Schwert, Wurfspeer und Panzer für Hektor angefertigt! Nicht nur die besten, auch die schönsten Waffen stünden ihm zu. Einmal traf ich ihn, etwas wie Frühling lag schon in der Luft, vor der Tür der Waffenschmiede. Ungeachtet unsrer Eumelos-Begleiter schloß er sich mir an. Manchmal genügt ein einziges Gespräch. Es zeigte sich, er hatte mich beobachtet. Du scheinst mir wegzutreiben, Schwester, sagte er, ohne Vorwurf in der Stimme. Aber weißt du auch, wohin? – Lange hatte mich keine Frage so gerührt. Hektor. Lieber. Er wußte, daß er nur noch kurz zu leben hatte. Ich wußte, daß er wußte. Was hätte ich ihm sagen können. Ich sagte ihm, daß Troia nicht mehr Troia war. Daß ich nichtwußte, wie ich damit fertigwerden sollte. Daß ich mich wie ein wundes Tier in einer Falle fühlte, keinen Ausweg sah. Immer, wenn ich an Hektor denke, fühle ich die Mauerkante meinen Rücken hinunter, an die ich mich preßte, und rieche Pferdedung, vermischt mit Erde. Er legte mir den Arm um meine Schulter, zog mich an sich. Kleine Schwester. Immer so genau. Immer so hoch hinaus. Du mußt vielleicht so sein, wir müssen dich ertragen. Schade, daß du kein Mann bist. Du könntest in den Kampf gehen. Glaub mir, manchmal ist das besser. Als was? – Wir lächelten.
    Sonst sprachen unsre Augen. Daß wir uns liebten. Daß wir Abschied nehmen mußten. Nie mehr, Hektor, Lieber, habe ich ein Mann sein wollen. Oft jenen Mächten, die für das Geschlecht der Menschen einstehn, gedankt, daß ich Frau sein darf. Daß ich an dem Tag, an dem du fallen würdest, wie wir beide wußten, nicht dabeisein mußte, das Schlachtfeld meiden konnte, auf dem Achill erneut sein Wesen trieb, nachdem sein Liebesfreund Patroklos von den Unseren getötet war. Zwiespältige Nachricht! War nicht Polyxena nun gerettet? Achills Sklavin kam mit verzerrten Zügen zu Anchises: Briseis, unsre Briseis, wurde, um ihren bockigen Herrn zu versöhnen, von Agamemnon eigenhändig zu ihm zurückgebracht. In welcher Verfassung! Das Mädchen weinte. Nein, nun gehe sie nicht mehr zurück. Wir sollten mit ihr machen, was wir wollten. Arisbe gab der lieblichen Oinone einen Wink. Mit ihr, dieser jungen Sklavin, die versteckt sein wollte, begann das ungebundne Leben in den Höhlen. Im nächsten Sommer sah ich sie wieder, ein andrer Mensch. Und auch ich bereit, der andre Mensch zu werden, der sich unterVerzweiflung, Schmerz und Trauer schon so lange in mir regte. Die erste Regung, die ich zuließ, war der Stich von Neid, den ich empfand, als Achills Sklavin, eng umschlungen mit Oinone, ging, ich wußte nicht, wohin. Und ich? Rettet mich auch! hätte ich fast gerufen, aber was mir zu erleben vorbehalten war, hatte ich noch nicht erlebt. Den Tag auf meinem Weidenlager, in kaltem Schweiß, als Hektor, wie ich wußte, auf das Schlachtfeld ging und, wie ich wußte, fiel.
    Ich weiß nicht, wie es vor sich ging; nie durfte jemand mir davon sprechen, auch Aineias nicht, der dabei war, doch um den ich mich nicht sorgte. In der tiefsten Tiefe; im innersten Innern, da, wo Leib und Seele noch nicht geschieden sind und wohin kein Wort, auch kein Gedanke reicht, erfuhr ich alles über Hektors Kampf, Verwundung, seinen zähen Widerstand und seinen Tod. Ich war Hektor, das ist nicht zuviel gesagt, weil: ich

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