Kassandra
dich zusammen. Laß dich nicht so gehn. Für Gesichte ist jetzt nicht die Zeit. Was geschehn soll, geschieht. Wir sind nicht dazu da, es zu verhindern. Also mach kein Wesens.
Auf einmal wurde unser Tempel ein begehrter Ort. Zweitrangige Unterhändler begegneten sich hier, um das Treffen vorzubereiten, auf das es ankam: Der Troer Hektor traf den Griechenheld Achill. Ich blieb in der Kammer hinter dem Altar, in der man jedes Wort versteht. Ich hörte, was ich wußte: Der Griechenheld Achill wollte die troische Prinzessin Polyxena. Hektor, der von Panthoos erfahren hatte, daß bei den Griechen Väter, ältre Bruder über Töchter, Schwestern die Gewalt ausüben, ging zum Schein, so war es ausgemacht, auf Achills Begehren ein: Also gut, die Schwester werde er ihm übereignen, wenn er seinerseits den Plan des Griechenlagers an uns weitergebe. Ich glaubte mich verhört zu haben. Niemals vorher hat Troia einen Gegner zum Verrat an seinen Leuten aufgefordert. Nie eine seiner Töchter an den Feind um diesen Preis verkauft. Unbeweglich stand dieser Andron, dem Polyxena anhing, hinter Bruder Hektor. Und Achill das Vieh, der, wie er ja bewiesen hatte, das Heiligtum nicht fürchtete, ging keinem dieser beiden an die Kehle. Konnte er denn ahnen, wie eng der erste Ring Bewaffneter das Heiligtum umstellte? Kaum. Er sagte, daß er sich das Ganzeüberlegen werde. Doch bitte er, noch einmal Polyxena sehn zu dürfen. Dies wollte nun, merkwürdig genug, Bruder Hektor nicht gestatten. Da griff Freund Andron ein, mit seiner frischen Stimme. Warum denn nicht! hört ich ihn sagen. Ach, Schwester, dacht ich, könntest du ihn hören, deinen hübschen Tunichtgut. Am Abend, wurde abgemacht, würde sich Polyxena zeigen, auf der Mauer, neben dem Skäischen Tor, ihrem künftigen Besitzer.
Inständig bat ich Polyxena, sich nicht zu zeigen. Warum denn nicht, sagte sie, wie jener Andron. Sie hatte keinen Grund dagegen, doch reichte das! Wo war ihr Grund dafür! So liebst du dieses Vieh? Kriegst du auch das noch fertig! entfuhr es mir. Der Satz, den ich mir nicht verzeihe. Der mir die Schwester unerreichbar weit entrückte. Ich sah es gleich, so wurde ihr Gesichtsausdruck: entrückt. Ich, in Panik, griff nach ihren Händen, entschuldigte mich, redete wie von Sinnen auf sie ein. Vergebens. Abends vor Sonnenuntergang stand sie auf der Mauer, mit jenem neuen fernen Lächeln, und blickte auf Achill hinab. Der stierte. Beinahe tropfte ihm der Speichel. Da entblößte meine Schwester Polyxena langsam ihre Brust, dabei blickte sie – immer wie von weit – auf uns: ihren Geliebten, ihren Bruder, ihre Schwester. Ich, flehentlich, erwiderte den Blick. He, Hektor! brüllte von unten mit heisrer Stimme Achill das Vieh. Hörst du mich! Die Übereinkunft gilt.
Sie galt. Für Monate war meine Schwester Polyxena die bewundertste Frau in Troia. Das hatte sie gewollt. Die Ihren strafen, indem sie sich selbst verdarb: Die Taten, die der Krieg heraustrieb, waren Mißgeburten. Polyxena hatte, als sie ihre Brust dem Griechen hinhielt, das Kind des Andron als ein kleines Klümpchen Blutverloren. Triumphierend, schamlos gab sie es bekannt. Frei sei sie, frei. Nichts, niemand halte sie.
So war es.
Ich ging zu Anchises. Die Runde, die ich antraf, blieb. Mein Verdacht war richtig: Hier trafen Sklavinnen aus dem Griechenlager mit unsern Frauen aus der Stadt zusammen. Warum auch nicht. So leicht war ich nicht mehr zu überraschen. Das dachte ich. Dann überraschten sie mich doch. Achill, erfuhren wir, hatte sich strikt geweigert, am Kampf der Griechen weiter teilzunehmen. Also hielt er Wort. Die Pest hatte das Griechenlager heimgesucht, geschickt vom Gott Apoll, behauptete der Seher Kalchas. Man müsse eine kleine Sklavin, die der große Agamemnon als sein Eigentum betrachtete, ihrem Vater wiedergeben, der zufällig auch ein Seher war. Dafür mußte dem Agamemnon Ersatz geleistet werden: Gewiß nicht ohne Zutun ihres Vaters Kalchas wurde Briseis, unsre Briseis, dem Achill entrissen, dem man sie solange zu beliebigem Gebrauch belassen hatte, und dem großen Flottenführer Agamemnon zugeteilt. Der hielt sie, sagten die Sklavenmädchen, in einem besondern Zelt. Ging nicht zu ihr, weder bei Tag noch bei Nacht. Der einzge Mann, der sie besuche, sei ihr ganz und gar ergrauter Vater Kalchas. Als ich zu fragen wagte, wie es ihr denn gehe, war nur ein langer stummer Blick die Antwort.
Mich fror. Bis in die letzte Faser meines Körpers war mir kalt. Anchises schien zu wissen, wie
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