Kassandras Fluch
ungewöhnlicher Name, aber ein Name mit Bedeutung. Die hat in der Mythologie die Wahrheit gesagt, aber niemand hat ihr je geglaubt. Wenn sie ihren Namen zu Recht trägt, müßte sie auch jetzt Lind früher immer die Wahrheit gesagt haben. Hat man ihr geglaubt?«
»Wer sollte ihr denn geglaubt haben?«
Ich starrte Suko an. »Der Geheimdienst. Oder kennst du eine andere Lösung?«
»Nein. Dabei denke ich an Latimer. Er war nicht begeistert davon, daß wir hiereinen Besuch machen.«
»Schlechte Erfahrungen?«
»Was weiß ich.«
Ich streckte meinen rechten Zeigefinger in die Höhe und bewegte ihn einige Male. »Gehen wir mal davon aus, daß der Ring magisch geladen ist und Lady Kassandra gewisse Kräfte verleiht, die man mit dem Wort Hellseherei umschreiben kann. Wenn das zutrifft, wird sie Dinge sehen, die sich in der Zukunft abspielen und die für die Geheimdienste interessant sein könnten.«
»Oder auch nicht. Weißt du denn, ob so etwas in ihre Pläne paßt? Die kochen lieber ihre eigene Suppe, auch wenn sie manchmal anbrennt. Den Burschen traue ich nicht.«
»Wahrscheinlich zu Recht.« Ich stieß die Luft schnaufend durch die Nase aus. »Vielleicht könnte sie uns dann die Gefallen tun, die ihr die Geheimdienste verwehren und uns erklären, wann und wo sich etwas anbahnt. Vorausgesetzt, sie besitzt ein feeling hin zur anderen, zur dämonischen oder magischen Seite.«
»Das sehe ich auch so.«
»Nicht ohne Grund hat Sir James uns beide losgeschickt.«
Suko gestattete sich ein Lächeln. »Der wußte schon Bescheid, John. Sir James war mal wieder mit allen Wassern gewaschen. Ich kann mir auch vorstellen, daß er und Lady Kassandra früher einmal sehr gute Bekannte gewesen waren.« Er schnickte mit den Fingern. »Was wissen wir eigentlich von der Vergangenheit unseres Chefs, John?«
»Nichts — so gut wie nichts.«
»Der Ansicht bin ich auch. Sie verschwimmt in einem trüben Grau. Auch deshalb, weil wir keine Fragen stellten.«
»Hatten wir denn Gründe?«
»Sicher nicht.«
»Eben.«
»Jedenfalls ist der Fall für mich noch längst nicht beendet«, erklärte der Inspektor. »Das dicke Ende kommt noch. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sir James uns nur geschickt hat, damit wir die drei Steinteile besorgen. Da muß noch etwas anderes dahinterstecken. Vielleicht geht es jetzt erst richtig zur Sache.«
»Bestimmte Vorstellungen hast du nicht — oder?«
Suko hob die Schultern. »Was heißt hier Vorstellungen? Ich könnte mir durchaus denken, daß Lady Kassandra jetzt, wo sie sich verjüngt hat, wieder so reagiert wie früher. Das alles ist möglich. Bestimmt sieht sie eine Gefahr, die sie uns mitteilt und die wir dann stoppen sollen.«
»Das ist weit hergeholt, Suko.«
»Zu weit?«
»Wir werden sehen.«
Er ging zur Bar und ließ Sodawasser in ein Glas schießen. »Ich jedenfalls habe da so meine eigenen Vorstellungen und nehme eigentlich alles hin, ohne großartig überrascht zu werden.«
»Warten wir auf ihre Rückkehr.«
Das dauerte nicht mehr lange, denn in den nächsten Sekunden öffnete sich wieder die Tür, durch die sie verschwunden war. Lady Kassandra kehrte zurück.
Aber wie sie kam.
Himmel, ich hatte Mühe, einen Pfiff oder ein lautes Staunen zu unterdrücken. Mit dieser Aufmachung hatte ich nicht gerechnet. Lady Kassandra trug einen modernen schilfgrünen Hosenrock mit weiten Beinen, die dicht über den Knöcheln endeten. Der goldfarbene Gürtel paßte zu den weichen Schuhen mit dem Goldmuster aus Wellenlinien, ebenso die grundweiße Seidenbluse mit den goldenen Stickereien. Das Haar hatte sie frisiert-unfrisiert gelassen. Um ihren Hals hing eine breite Kette, und die Finger der Rechten waren voll beringt, im Gegensatz zur Linken, an der sie nur einen Ring trug, eben den, den wir aufgefüllt hatten.
»Sind Sie es tatsächlich?« fragte ich.
Die Frau lachte. »Ja, ich bin es. Und ich bin wieder so geworden wie früher. Ich habie mein Alter überstanden. Ich habe die Jugend zurückgeholt, obwohl sehr viele junge Leute eine Dreißigjährige nicht mehr als jung ansehen, wenn Sie verstehen.«
»Sicher, das begreife ich.«
»Trinken wir einen Schluck zusammen?« fragte sie und bewegte sich dabei wie eine sichere Gastgeberin, die es gewohnt war, Feste zu geben und im Mittelpunkt zu stehen. Wir hatten nichts dagegen und konnten unter mehreren Whiskysorten aussuchen.
Suko blieb bei Sodawasser. Ich verdünnte mir meinen Drink, was auch Lady Kassandra tat. Sie hob ihr Glas, darüber
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