Kastner, Erich
Glattrasiert.«
»Natürlich!« rief Seiler.
»Der Herr sah wie ein Gelehrter aus«, meinte das Büfettfräulein.
»Den Mann hätten Sie sehen sollen, als er noch einen Bart umhatte! Da sah er wie eine ganze Universität aus!« Seiler rannte in den Vorgarten und setzte sich wieder neben Struve, der auf der Marmortischplatte komponierte. Er hatte mit einem kleinen Bleistift fünf parallele Linien gezogen und tupfte einen Notenkopf neben den andern.
Seiler blickte mißmutig auf die Straße. Plötzlich zuckte er wie elektrisiert zusammen und umklammerte Struves Arm.
»Stör mich nicht!« knurrte der andre. Er pfiff das Thema, das er notiert hatte, sanft und leise vor sich hin. Er glich einem Kind auf dem Spielplatz.
»Mensch!« Seiler rüttelte den Tondichter. »Siehst du dort den eleganten Herrn im Taxi?«
»Hinter dem Möbelwagen? Neben der Straßenbahn?«
»Ja. Das Taxi kann nicht vorbei. Wir haben Glück. Hör zu, mein Junge! Wenn du diesen Herrn wohlbehalten am Alex ablieferst, kriegst du von mir einen Kuß auf die Stirn.«
»Laß das!«
»Tu mir den Gefallen, Rudi!«
»Ich kann doch nicht einen mir völlig fremden Herrn verhaften lassen!«
»Er ist der Anführer einer Diebesbande!«
»Wenn dich das interessiert, dann fang ihn dir gefälligst selber!«
»Ich habe keine Zeit«, sagte Seiler. »Rudi, los! Ich erzähle dir dann auch, wer sich in Kopenhagen als Herr Struve herumgetrieben hat!«
Der Komponist wurde lebendig. »Der unter meinem Namen gemaust hat?«
»Eben dieser!« Seiler faltete die Hände. »Nun mach doch schon, daß du fortkommst! Der Möbelwagen kann jede Sekunde ausweichen! Dann ist der Kerl weg!«
»Woher kennst du den falschen Struve?«
Seiler beugte sich vor und flüsterte dem Freund etwas ins Ohr. (Er flüsterte es, damit die Leser noch nicht erfahren, was er sagte.)
»Aha. Und du zeigst mir dann meinen Doppelgänger?« Struve zappelte.
»Ja doch!«
»So nahe, daß ich ihm eine kleben kann?«
»Noch näher! Nun schere dich aber fort. Und merke dir die Autonummer!«
»Furioso in Oktaven!« rief Struve, stülpte sich den Hut auf die Mähne, winkte einem leerfahrenden Taxi und begab sich auf die wilde Jagd.
Seiler zahlte dem Kellner und ging zur nächsten Straßenecke, wo Taxen warteten. Er setzte sich in den ersten Wagen und sagte zum Chauffeur: »Yorckstraße, Ecke Belle-Alliance-Straße. Es eilt! Umwege können Sie sich ersparen. Ich kenne den Weg.«
Irene Trübner hatte ihre Erzählung beendet. Sie hatte nichts hinzugefügt und nur wenig verschwiegen. Nun saß sie stumm im Sorgenstuhl Josefs II. und wartete auf ihr Urteil.
»Bravo!« sagte Herr Steinhövel. »Bravo! Sie haben sich famos benommen. Auf den Einfall, Herrn Külz statt des Originals die Imitation zu geben, können Sie stolz sein. Und warum machen Sie sich wegen des Warnemünder Überfalls Vorwürfe? Liebes Kind, die Miniatur wäre Ihnen in dem stockdunklen Lokal auf jeden Fall geraubt worden! So oder so. Wenn nicht von dem falschen Struve, dann um so sicherer von der Bande. Der Holbein ist verschwunden.
Ich bin trotzdem mit Ihnen zufrieden.«
»Sie sind sehr gütig, Herr Steinhövel.«
»Gütig?« fragte der alte zierliche Herr erstaunt. »Ich bemühe mich, gerecht zu sein. Einem alten Mann fällt das nicht allzu schwer.«
Das Telefon läutete.
Herr Steinhövel erhob sich und ging zum Apparat. Er hob den Hörer ab. Nach kurzer Zeit leuchtete sein faltiges Gesicht auf. »Tatsächlich?« rief er. »Das ist ja wunderbar! Wir kommen!« Er legte den Hörer wieder auf und wandte sich um. »Was sagen Sie dazu?
Die Miniatur befindet sich auf dem Polizeipräsidium!«
Irene Trübner fragte heiser: »Und Herr Struve? Ich meine, der falsche Struve? Der auch?«
»Nein. Die Bande!«
»Aber die hat doch den Holbein gar nicht gestohlen!«
»Vielleicht doch? Bald werden wir mehr wissen«, sagte der alte Sammler und klatschte in die Hände. »Marsch, marsch! Kommen Sie, mein Kind!« Er öffnete die Tür zur Halle.
Der Diener erschien.
»Hut und Mantel!« rief Herr Steinhövel.
Kaum war Fleischermeister Külz auf den Autobus geklettert, der vor seinem Hause hielt, als ein schlanker junger Mann das Geschäft betrat.
Frau Emilie Külz kam aus der Ladenstube heraus. »Was darf’s sein?«
Der Herr zog höflich den Hut und wollte den Meister sprechen.
»Wir kaufen nichts«, sagte Frau Külz.
Der junge Mann lachte. »Aber ich will Ihnen ja gar nichts verkaufen!«
»Dann entschuldigen Sie«, erwiderte Frau Külz.
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