Kater mit Karma
Menschen im Haus plus Rob und Chantelle – die mit Annie zu Besuch gekommen waren – beugten sich entzückt darüber und riefen Oooh und Aaah, was Jonah, seit er ausgewachsen war, nicht mehr gehört hatte.
Ich konnte förmlich sehen, wie er sich in seinem Fell verkroch und versuchte, sich über die neue Situation klarzuwerden. Er traute seinen Ohren kaum, als er »Ist sie nicht entzückend?« und »Ach, wie süß!« hörte.
Entzückend und süß waren für ihn reservierte Vokabeln. Ungläubig musterte er seine Menschen mit zusammengekniffenen Augen. Sie waren durchgedreht. Hatten sie etwa vergessen, dass er der Einzige war, bei dem es Oooh und Aaaah zu rufen galt?
Das erste Mal in seinem Leben hatte Jonah einen Rivalen. Die Lösung des Problems lag auf der Hand. Eine schnelle Attacke und das Gummibärchen würde entthront sein. Mit zitternden Hinterbeinen bereitete er sich auf den Angriff vor. Rob und Chantelle, in höchster Alarmbereitschaft, gingen in Stellung, um sich schützend über ihr Baby zu werfen.
»Nein Jonah!«, rief ich, packte ihn und sperrte ihn in die Waschküche.
Wir fuhren damit fort, das Baby zu bewundern, zählten seine Fingerchen und strichen über seinen Kopf, als plötzlich ein schreckliches Geheul ertönte. Langsam und klagend wie eine Sirene. Jonah weinte.
»Er muss sich an Annie gewöhnen«, sagte Rob, als er das Heulen nicht mehr ertrug. »Lass uns mal nachsehen, wie’s ihm geht.«
Ich befreite Jonah aus seinem Gefängnis und setzte ihn auf die Plattform ganz oben auf seinem Kratzbaum, wo er sich immer sicher fühlte und den Überblick hatte. Damit ihm nicht langweilig wurde, gab ich ihm mehrere Satinbänder. Aber das interessierte ihn alles nicht. Statt seine übliche majestätische Pose einzunehmen, kauerte er sich hin, den Blick auf das Baby geheftet.
Das Gespräch wandte sich wieder Babyschuhchen und Säuglingsnahrung zu, und Jonah unterzog sich einer ausführlichen Wellness-Behandlung. Pfoten, Ballen, die Ritzen zwischen den Ballen. Vorderseite der Ohren, Rückseite der Ohren, die Falte hinter den Ohren. Er übersah nicht einen Quadratmillimeter. Ein Hinterbein in die Höhe gestreckt, machte er einen völlig relaxten Eindruck – aber sein Hirn lief auf Hochtouren.
Lydia reichte gerade einen Teller mit Keksen herum, als ein Schatten an ihr vorbeiflog und ihr den Teller aus den Händen riss. Ein Vogel? Ein Flugzeug? Nein, es war Super-Jonah mit einem orangenfarbenen Band zwischen den Zähnen, das wie ein Banner hinter ihm herflatterte.
»Mann!«, rief Lydia, als die Kekse über den Teppich rollten. Das war so ziemlich der schlimmste Fluch, den sie damals im Repertoire hatte. Wir anderen sahen mit offenem Mund zu, wie Jonah auf die Kekse plumpste, einen halben Meter neben dem Bettchen.
»Jetzt reicht’s, Jonah«, fuhr ich ihn an. »Ab in die Waschküche.«
»Warte mal«, sagte Lydia. »Ich glaube, er hat was vor.«
Mit einem ungeduldigen Seufzer setzte ich mich wieder. Das Band nach wie vor zwischen den Zähnen, kroch Jonah vorsichtig auf die schlafende Annie zu. Die Ohren nach vorne gerichtet, robbte er an sie heran und musterte sie durch das Netz. Er hob eine Pfote und tätschelte vorsichtig das Netz neben ihrem Kopf. Dann trat er einen Schritt zurück und verneigte sich graziös. Ich traute meinen Augen nicht. Mit gesenktem Kopf legte er das Band in einer geraden Linie auf den Teppich neben das Kinderbett und zog sich zurück.
»Siehst du? Es ist ein Geschenk«, flüsterte Lydia. »Er macht Annie ein Geschenk.«
Unser Kater und unsere Tochter. Zwei Wesen, die stets einen eigenen Weg wählten. Und mich immer wieder überraschten mit den vielen Facetten ihrer Liebe.
Jonah bemühte sich zwar nach Kräften, sich mit Annie anzufreunden, aber das änderte nichts an seiner Besessenheit, was das Kinderbett betraf. Egal in welchem Zimmer ich es versteckte, er folgte seiner Spur und fing an zu miauen und um Zutritt zu betteln. Sobald die Tür auch nur einen winzigen Spalt geöffnet wurde, zwängte er sich durch, flitzte zum Bett und sprang, wenn es offen war, hinein oder sonst auf das Dach. Er rieb sich seitlich daran und betatzte die Edelstahlfüße, bewundernd, als ob es Kunstwerke wären.
Gerade als Jonah sich an die Vorstellung gewöhnte, Unterkatze für ein Baby zu spielen (zumindest solange es zu Besuch war), zeichnete sich ein weiteres beunruhigendes Ereignis am Horizont ab.
Eines Morgens trottete Jonah in das Marquis-de-Sade-Kabinett, wo Philip gerade seinen Koffer
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