Kater mit Karma
Gabeln und Löffeln, um sich über das Dessert herzumachen, Chantelles Onkel, seines Zeichens Moderator, gebot ihnen jedoch Einhalt. Es gebe noch eine Rede, erklärte er.
Wir blickten uns neugierig um, um herauszufinden, wer der Überraschungsredner war. Ein Stuhl wurde zurückgeschoben und Lydia trat so anmutig vor, wie es ihre ungewohnten Stöckelschuhe zuließen.
Lydia lächelte uns an und sagte, sie wolle weniger eine Rede halten als vielmehr einen Segen sprechen. Genauer gesagt handle es sich um einen Gesang, um himmlische Wesen einzuladen, unser Glück mit denen zu teilen, die nicht mehr bei uns waren. Die Gäste verstummten, als die unbekannten Laute über sie hinwegschwebten. Es war derselbe Singsang, den ich im Krankenhaus gehört hatte.
Als er verklungen war und Lydia auf ihren Platz zurückkehrte, blieb es still, die Leute fragten sich offensichtlich, was sie jetzt tun sollten. Meine Wangen brannten vor Scham. In der Abgeschiedenheit eines Krankenzimmers zu singen, war eine Sache. Wenn sie mich vorher gefragt hätte, hätte ich gesagt, dass es nicht angemessen war, die Gäste einer Hochzeitsfeier damit zu konfrontieren. Glücklicherweise überspielten die Musiker das betretene Schweigen. Mit einem neu hinzugekommenen Schlagzeuger verwandelten sie sich in eine Tanzkapelle. Das frischgebackene Ehepaar Brown, das auf einen Brautwalzer verzichtete, forderte alle Anwesenden auf, ihm auf die Tanzfläche folgen.
Beflügelt von dem Champagner und der romantischen Stimmung, ließen sie sich nicht lange bitten. Ein älteres Paar drehte sich bedächtig im Kreis und legte einen halb vergessenen, zeitlupenartigen Quickstep aufs Parkett. Die Brautjungfer durchquerte den Raum und griff nach der Hand eines halbwüchsigen Jungen. Seine Verlegenheit wich rasch dem Entzücken, von der zweitschönsten Frau im Raum auserwählt worden zu sein.
Die Stimmung wurde immer ausgelassener, als Teenager anfingen, den Shimmy zu tanzen und Fremde einander aufforderten. Ich sah mich um und stellte fest, dass fast alle Menschen, die wir liebten, hier in einem Raum versammelt waren, tanzten, sich küssten … und, oh nein, die Braut packte mich, drehte sich um und legte meine Hände links und rechts um ihre Taille – zu einer Conga-Line! Im nächsten Augenblick legten sich von hinten zwei Hände um meine Taille. Als ich einen Blick über die Schulter warf, strahlte mich Lydia an. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich sie das letzte Mal tanzen gesehen hatte.
Ich hatte gedacht, Conga-Lines gäbe es nur noch in Filmen aus den Fünfzigern. Aber je mehr Leute sich der menschlichen Schlange anschlossen, sich im gleichen Rhythmus wiegten und mit den Füßen stampften, umso stärker wurde das Gefühl von Zusammengehörigkeit. Die Fremdheit, die wir als Einzelwesen empfunden hatten, löste sich in Luft auf. In dieser Nacht, auf dieser wunderbaren, fröhlichen Feier waren wir eine pulsierende Einheit, eine Gemeinschaft. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte die Conga-Line niemals ein Ende gefunden.
Nachdem die Torte angeschnitten war und den Gästen vom vielen Tanzen die Füße weh taten, zog sich ein Teil in die Bar einen Stock tiefer zurück. Ich machte es mir auf einem Sitzsack gemütlich und zu mir gesellte sich eine Verwandte, die überzeugte Katholikin war und zu jener Sorte Menschen gehörte, die einer unkonventionellen Hochzeitsfeier wie dieser hier wenig abgewinnen können.
»Weißt du, was für mich heute Abend etwas ganz Besonderes war?«, fragte sie und nippte an einem hellgrünen Cocktail. »Der Segen, den Lydia gesprochen hat. Sie hat die gesamte Atmosphäre verwandelt. Hast du es auch gespürt?«
Im Lauf des Abends hörte ich das noch von einigen anderen Gästen. Ich war erleichtert, dass sie Lydias Segen in dem Geist verstanden hatten, in dem er gegeben worden war. Ich hätte ihr mehr vertrauen sollen.
Ich hätte nicht sagen können, wie spät es war, als wir in unserem Cottage schließlich ins Bett fielen. Philip und ich waren uns einig, dass wir eine wunderschöne Hochzeit erlebt hatten, vielleicht die schönste, auf der wir jemals gewesen waren – abgesehen von unserer eigenen.
An dem Tag, als ich durch den Gang einer mittelalterlichen Kirche auf den Altar zugeschritten war, vor dem mein attraktiver zukünftiger Ehemann auf mich wartete, hatte ich mein Glück kaum fassen können. »Bis dass der Tod uns scheidet« war uns leicht über die Lippen gekommen. Dass wir uns eines Tages würden trennen müssen, war das
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