Kates Geheimnis
fest.
»In Uxbridge. Da gab es ein Porträt von Anne, Kate und Edward. Die beiden Mädchen saßen auf der Bank vor dem Klavier, und Edward stand daneben. Es war ein entzückendes Bild, die Mädchen in bestickten Musselinkleidern, Edward mit Hose und Reitmantel.
Ich glaube, das Bild wurde auf dem Lande gemalt.«
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Jill blickte zu Alex, der sie ebenfalls ansah. Sie wandte Mrs. Witcombe den Rücken zu. »Auf Stainesmore?«
»Ja, natürlich, meine Liebe. Wo sonst?«
»Ich kann mich nicht an ein solches Porträt in Uxbridge Hall erinnern«, warf Alex leise ein.
Jill nickte und prägte sich ein, so schnell wie möglich Lucinda anzurufen und nach dem Porträt zu fragen. Vielleicht wurde es gerade restauriert. »Was können Sie mir über Kate und Anne sagen?«
Mrs. Witcombe schien zu zögern. »Nicht viel, fürchte ich. Ich weiß dasselbe wie alle anderen. Die beiden waren Freundinnen, und als
Kate nach London kam, wohnten sie und ihre Mutter bei Anne. Und Kate ist verschwunden.«
Jill drückte sich selbst die Daumen. »Mrs.
Witcombe.« Sie berührte die alte Dame an der Schulter. »Kurz bevor Uxbridge Hall als Museum eröffnet wurde, hat Anne es besichtigt, um ihre Zustimmung zu geben. Erinnern Sie sich daran?«
Mrs. Witcombe sah ihr in die Augen. »Wie könnte ich das jemals vergessen?« Sie wirkte grimmig.
»Was haben Sie?«, rief Jill.
»Was soll ich Ihnen denn sagen?«, gab Mrs.
Witcombe zurück.
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»Lucinda hat mir erzählt, dass Anne sehr traurig wurde, als sie ihr altes Schlafzimmer betrat. Dass sie geweint hat.«
»Sie hat sich furchtbar aufgeregt«, flüsterte Mrs.
Witcombe. »Nicht sofort. Zuerst war sie sehr zufrieden mit den Renovierungsarbeiten. Dann, als wir in ihr altes Zimmer kamen, geschah etwas mit ihr.
Ich habe es sofort bemerkt. Ihr Gesicht wurde ...
düster ... sehr bedrückt. Und sie setzte sich aufs Bett.
Ich dachte, ihr sei nicht gut, aber sie winkte ab und deutete aufs Fenster, und sie erzählte mir, wie ihre Freundin Kate - ihre beste Freundin - Nacht für Nacht aus diesem Fenster kletterte, um sich mit ihrem Liebsten zu treffen.«
Jill bekam nur am Rande mit, dass Alex ganz nah an sie herantrat - als wolle er sie vor allem beschützen, was als Nächstes kommen mochte. »Hat sie Ihnen erzählt, wer Kates Geliebter war? Hat sie Ihnen erzählt, was mit Kate passiert ist?«
Mrs. Witcombe seufzte schwer und schlang ihr Tuch noch fester um sich. »Sie hat nie über Kates Schicksal gesprochen. Sie begann zu weinen.
Vollkommen lautlos. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie war ja so unglücklich, meine Liebe. Also bin ich hinausgelaufen und habe ihr eine Tasse Tee geholt.«
»Und das ist alles?«, rief Jill.
Plötzlich richtete sich Mrs. Witcombes Blick nicht auf Jill, sondern in eine unbekannte Ferne. Ihre 375
Augen hatten sich verändert, waren verschwommen und hatten ihr Strahlen verloren. Jill fürchtete, sie hätte ihre Klarheit wieder verloren. Sie dachte, das Gespräch sei beendet.
Aber Mrs. Witcombe sprach weiter, mit leiser, entrückter Stimme. »Als ich wieder ins Zimmer kam, stand Anne am Fenster. Sie hörte mich nicht, obwohl ich mich höflich räusperte. Einen Augenblick lang war ich starr vor Schreck, denn ich dachte, sie würde springen. Das Fenster stand weit offen. Sie hatte es ganz weit aufgemacht.« Mrs. Witcombe verstummte.
Neben der Bank war ein kleiner Tisch, und darauf stand ein Tablett mit einem Wasserkrug und mehreren Gläsern. Alex reichte Mrs. Witcombe ein Glas Wasser. Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, sagte sie heiser: »Anne klang sehr merkwürdig, sie sagte, und ich werde ihre Worte niemals vergessen,
>Damals wusste ich es noch nicht, aber ihr Geliebter war Edward, mein Edward<.«
Jill starrte sie entgeistert an.
»Dann nahm sie den Tee, trank, als wäre gar nichts geschehen, dankte mir für die gute Arbeit, die ich geleistet hatte, und ging: Ich habe sie danach noch ein paarmal gesehen, aber dieses Thema wurde nie wieder erwähnt. Und das ist alles, was ich weiß.«
Mrs. Witcombe sah sie beide an. Ihr Blick war wieder klar und konzentriert.
Jill schwieg schockiert.
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»Nun«, brach Alex das Schweigen, »wenn Edward Kates Geliebter war, erklärt das eine ganze Menge.«
Jill sah ihn nur verständnislos an.
1. Oktober 1906
Kate und Anne saßen zusammen in der Kutsche, die von sechs rabenschwarzen Pferden gezogen wurde, und hielten einander ganz fest an der Hand, während der Wagen
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