Kates Geheimnis
Moment wurde ihr klar, dass sie nicht bremsen konnte. Ihre Bremsen versagten.
Es war wie ein Déjà-vu. Sie rasten dahin - der riesige Baum ragte vor ihnen auf - nur noch ein Augenblick bis zu dem erschütternden, zerstörerischen, entsetzlichen Aufschlag.
»Jill?! Bremsen Sie doch!«, schrie Lucinda, während sie auf die Wagen zurasten, die vor ihnen an der belebten Kreuzung gehalten hatten.
»Es geht nicht!«, rief Jill, die verzweifelt immer wieder das verdammte Pedal durchtrat. »Die Bremse geht nicht!«
Wenige Meter vor ihnen stand ein rotes Auto. Der Toyota flog darauf zu. Die rote Stoßstange kam immer näher. Nur noch ein Augenblick ...
Lucinda schrie.
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Vierter Teil
Das Gericht
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Zweiundzwanzig
15. September 1908
I hr war schlecht. Kate schlang die Arme um sich und fürchtete sich davor, ihrer Übelkeit nachzugeben, während ihre Kutsche die Straße entlang raste.
Aber es ging ihr nicht schnell genug. Mit ihrer behandschuhten Faust klopfte sie an die Rückenlehne des Kutschers. »Schneller, Howard«, befahl sie.
»Schneller!« Er hatte die beiden Pferde schon zu einem leichten Galopp angetrieben.
»Ja, Mylady.«
Kate befahl sich, ruhig zu atmen. Da musste ein Missverständnis vorliegen, dachte sie, während sie auf dem samtbezogenen Sitz durchgeschüttelt wurde.
Abrupt schloss sie die Augen, die sich mit Tränen füllten. Hatte sie nicht gewusst, dass Edward eines Tages gezwungen sein würde, eine andere zu heiraten? So leicht, wie sein gemeiner alter Vater ihn mit der Drohung, ihn zu enterben, von der Ehe mit Kate abgehalten hatte, konnte er Edward auch zwingen, jede Frau zu heiraten, die Collinsworth für seinen Sohn aussuchte.
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Aber, lieber Himmel, Anne? Edward sollte Anne heiraten? Ihre allerbeste Freundin? Das konnte nicht wahr sein!
Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie hatte Schmerzen in der Brust. Das Ganze musste ein Irrtum sein - ein riesiger, schrecklicher Irrtum.
Sie öffnete die Augen und tupfte sie mit den Fingerspitzen ab. Zwei Bilder befanden sich in ihrem Kopf in erbittertem Widerstreit.
Das eine war Edwards schönes Gesicht, seine Augen waren von zärtlicher Liebe für sie erfüllt. Das andere war Annes Gesicht, mit strahlenden Augen -
und sie war so schön wie nie zuvor. Anne liebte Edward.
Kate presste die Hände vor den Mund, um einen Aufschrei zu ersticken. Das war ja entsetzlich! Und warum hatte Edward ihr nichts davon gesagt? Hatte er sich schließlich doch entschieden, seinem Vater zu gehorchen? Nein! Das war unmöglich. Kate rief sich ihr Intermezzo in Erinnerung, das erst Stunden her war, und die Leidenschaft und Liebe, die sie geteilt hatten. Zweifellos versuchte er, ihr Kummer zu ersparen, dachte Kate.
Kate war so aufgewühlt gewesen, als Anne ihr von der Verlobung mit Edward erzählt hatte, dass sie nicht einmal mehr nach dem fragen konnte, was jetzt so an ihr nagte. Hatte Edward um sie geworben? Kate glaubte es nicht, aber Collinsworth war ein sehr einflussreicher Mann, und wer konnte wissen, mit 623
welchen Mitteln er Edward unter Druck setzte? Und nun versuchte sie sich zu erinnern, ob sie einen Verlobungsring an Annes Hand gesehen hatte. Sie glaubte es nicht.
Die Kutsche wurde langsamer. Kate wurde überwältigt von Wut, und sie stand kurz davor, wieder an den Sitz zu hämmern und den Kutscher anzuschreien, warum er es wagte, langsamer zu werden, als sie bemerkte, dass sie in die Auffahrt von Uxbridge Hall eingebogen waren. Ihr Herz sank. Sie fürchtete sich entsetzlich.
Sie war erst einmal in Edwards Familienstammsitz gewesen, als er ihr nach einem Ausritt im Park das große Haus gezeigt hatte. Bald darauf hatte der Earl Edward verboten, sie zu sehen, geschweige denn sie zu heiraten, und sie hatten ihre Affäre heimlich fortgesetzt. Kates Herz tat weh, als sie nun vor dem riesigen, imposanten Gebäude stand. Sie konnte an nichts anderes denken, als dass sie hier niemals willkommen sein würde, wenn nicht eines Tages, bald, Collinsworth starb, so dass Edward sie heiraten konnte.
Was geschieht mit mir, flüsterte Kate entsetzt, dass ich jetzt schon darauf warte, dass ein alter Mann stirbt? Oh Gott, was geschieht mit mir?
»Miss?« Ein Diener hielt ihr die Kutschentür auf.
Kate kam zu sich und ließ sich von ihm herunterhelfen.
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»Was kann ich für Sie tun?«, fragte einer der Diener am Portal. Kate holte mit zitternder Hand eine Visitenkarte aus ihrer Tasche. Ihr war schwindlig, aber sie musste jetzt alle Sinne beieinander
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