Kates Geheimnis
Schließlich sagte sie: »Vielleicht bezieht sich der Turm auf Hals Tod.«
»Nein. Das glaube ich nicht.« KC hielt kurz inne.
»Ich bin ganz sicher, dass er sich auf die Zukunft bezieht.«
Jill war nicht ihrer Meinung, sagte aber nichts. Hals Tod hatte ihr Leben zerstört, es würde nie wieder so sein wie zuvor - wenn das kein Umsturz war, was dann? KC irrte sich. Der Turm bezog sich auf die Gegenwart, nicht auf die Zukunft.
KC sprach weiter. »Vertrau mir, Jillian, und vertrau den Sternen, sie stehen auf deiner Seite.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Jill.
»Es gibt einen Grund für alles, was mit uns geschieht«, erwiderte KC sanft.
»Nein. Nein, gibt es nicht.«
»Lass mich nur eine Karte ziehen. Um Klarheit zu schaffen«, beharrte KC.
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»Wozu denn?«, fragte Jill, aber sie hörte, dass die Karten bereits gemischt wurden. Es hatte keinen Sinn, denn ihre Situation war sonnenklar. Hal war tot. Sie war allein. Und, weiß Gott, sie hatte ihn durch ihre verantwortungslose Fahrerei getötet.
Aber dann dachte sie an seine letzten Worte, und an Kate Gallagher. Und sie hörte, dass die Karten zur Ruhe gekommen waren. Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.
»Was hast du gezogen?«, flüsterte Jill.
»Da ist eine Frau. Es könnte sein, dass du gemeint bist, aber das glaube ich nicht, weil es die Herrscherin ist. Sie ist sehr mächtig, umgeben von Reichtum, und sie ist sehr kreativ, vielleicht eine Künstlerin.«
»Ich bin Künstlerin.«
»Sie ist vielleicht schwanger«, sagte KC langsam.
Jill starrte das Telefon an.
»Sie ist meistens schwanger. Jill, du bist doch nicht schwanger, oder?«
»Nein«, antwortete Jill mit einem tiefen Seufzer.
Für heute hatte sie genug von Fatalismus und Vorsehung gehört, und während sie schwitzend den Hörer umklammerte, dachte sie, dass sie es nicht ertragen könnte, wenn sie schwanger wäre. »Ich muss Schluss machen. In zwei Tagen bin ich wieder zu Hause. Vielen Dank für alles.«
»Jill! Pass auf dich auf. Wir sehen uns, wenn du wieder da bist.« Jill konnte nicht mehr sprechen.
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Rasch legte sie auf. Hal war tot. Sie konnte unmöglich schwanger sein.
Jill versuchte sich zu erinnern, wann sie zuletzt ihre Periode gehabt
hatte, aber sie konnte nicht mehr denken. Zum Teufel mit dem Turm, dachte sie düster. Und zum Teufel mit der verdammten Herrscherin!
Und sie war bestimmt nicht schwanger. Das durfte einfach nicht sein. Das wäre der grausamste Schachzug, den das Schicksal sich ausdenken könnte.
Sie hatte geglaubt, dass ihr Leben nicht schlimmer werden konnte, aber wenn sie Hals Kind in sich trug, dann würde es das ganz sicher.
Jill verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte zur Decke hoch. Sie war angetrunken und erschöpft und fühlte sich wie betäubt. Und als die Erschöpfung sie schließlich überwältigte und sie endlich einschlief, war ihr letzter Gedanke der, ob es irgendeine Verbindung zwischen ihr und Hal und einer Frau namens Kate Gallagher geben konnte.
Und sie träumte von einem feuchten, dunklen, verfallenden Turm, aus dem es kein Entkommen gab.
Jill betrat nach den Sheldons die anglikanische Kirche, in der der Trauergottesdienst stattfand, und ihre Schritte hallten auf dem jahrhundertealten grauen Steinboden. Wie fast alle Kirchen in England gehörte auch diese in eine andere Zeit -
sie war
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wahrscheinlich fünf oder sechshundert Jahre alt. Die Wände waren aus nacktem Stein, die Fenster aus uraltem Buntglas, die Bänke zerkratzt und abgenutzt.
Die meisten dieser Bänke hatten sich schon mit Freunden und Bekannten der Familie gefüllt.
Jill bekam Platzangst.
Sie ging weiter den Gang entlang, hinter Lauren her, die sich ein Taschentuch vors Gesicht drückte und still weinte. Ihr Mann, groß und dünn mit herrlichem, dunklem, schulterlangem Haar, hatte einen Arm um sie gelegt. Jill hatte ihn im Haus kurz gesehen. Sie hatte nur soviel mitbekommen, dass er Künstler war und die Ehe von Spannungen belastet.
Thomas ging vor ihnen, den Arm um seine Mutter Margaret gelegt, der Jill gar nicht vorgestellt worden war. Die wenigen Blicke, die sie vor der Kirche auf Hals Mutter erhaschen konnte, hatten ihr gezeigt, dass Margaret unter starken Beruhigungsmitteln stand und von Schmerz gezeichnet war. Sie schien nichts von Jills Anwesenheit zu wissen, und das war wohl ganz gut so.
Jill versuchte den Blick von Thomas’ breiten Schultern abzuwenden. An diesem Morgen hatte er sie mit einem äußerst knappen Nicken begrüßt.
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