Kates Geheimnis
war Marisa? Was hatte die Bemerkung zu bedeuten? Jill rang nach Luft. Sie konnte sich kaum mehr zusammennehmen. Oh Gott. Genau davor hatte sie sich heimlich gefürchtet, vor versammelter Mannschaft zusammenzubrechen, vor all diesen fremden Leuten, vor Hals Familie - Thomas, Alex -
vor denen, die sie so verabscheuten. Sie konnte nicht mehr!
Denk nicht an die andere Frau, befahl Jill sich selbst. Hal hat dich geliebt. Es ist nicht so, wie du denkst, bestimmt nicht. Diese Frau im Chanel-Kostüm musste etwas anderes gemeint haben - aber Jill war zu durcheinander, um zu verstehen, was das sein könnte.
Jill klammerte sich an die Armlehne der Kirchenbank. In der ersten
Reihe schluchzte nun leise Margaret Sheldon.
Thomas drückte sie an sich. Direkt vor Jill begann Lauren zu weinen, zuerst in die vors Gesicht gehaltenen Hände, dann an der Schulter ihres 101
Mannes. Der Gottesdienst war zu einem Albtraum geworden. Ein Albtraum, dem sie entfliehen musste.
Jill schloss die Augen und befahl sich, tief und gleichmäßig zu atmen, aber sie fühlte sich schwach und schwindelig, und sie hatte schreckliche Angst, nicht mehr lange durchhalten zu können. Sie öffnete die Augen und begegnete Thomas’ Blick. Er hielt seine Mutter immer noch fest und wandte sich sofort wieder ab. Die Anklage in seinen Augen war unmissverständlich gewesen.
Und Jill hörte den Pastor sagen: »Eine der gütigsten, mitfühlendsten und mutigsten Seelen, der ich jemals begegnet bin.«
Mutig. War Hal mutig gewesen? Er hatte mit dem Gedanken gespielt, sie nach seinem Heiratsantrag einfach sitzen zu lassen. Weil er Angst davor hatte, sie hierher mitzubringen. Zu diesen Leuten, diesem Lebensstil, dieser Arroganz und Herablassung. In diesem Moment konnte Jill es ihm nicht verübeln, dass ihn der Mut verlassen hatte. Sein Familie war kalt und feindselig. Oh Gott. Sie hassten sie, aber selbst wenn Hal noch am Leben gewesen wäre, hätten sie sie gehasst; und das hatte Hal gewusst.
Jill ballte die Fäuste so heftig, dass sich ihre kurzen, gepflegten Fingernägel in ihre Handflächen gruben; sie war drauf und dran, aufzuspringen und aus der Kirche zu laufen. Hal war nicht mutig . Dieser Gedanke kam ihr vor wie ein abscheulicher Verrat; sie wünschte verzweifelt, sie hätte das nie gedacht.
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Und sie spürte wieder die aufdringlichen Blicke und wusste, dass man sie beobachtete. Sie konnte nicht gehen. Alle sprachen bereits über sie, und wenn sie das tat, würde das Gerede noch viel schlimmer werden. Mit verschwommenem Blick starrte Jill geradeaus.
Marisa war die Art von Frau, die Hal hätte nach Hause bringen können. Ein einziger Blick hatte Jill das bestätigt: Sie war elegant,
aus gutem Hause - aus reichem Hause. Es war genauso schmerzlich offensichtlich wie Jills ärmliche Herkunft. Ihre trendigen Kunstseide- und Lycra-Klamotten, ihre Secondhand- und Flohmarktstücke schrien förmlich »Unterschicht«. Selbst ihre Frisur war zu flippig für diese noble Gesellschaft.
Vor allem aber war sie eine Tänzerin. Seit ihrem sechsten Lebensjahr war der Tanz ihre Leidenschaft gewesen. Was hatte Hal sich nur dabei gedacht?
Thomas sprach. Jill fuhr beim Klang seiner heiseren Stimme zusammen, denn sie hatte gar nicht wahrgenommen, dass er aufgestanden und auf die Kanzel gestiegen war. Es war eine Erleichterung, sich nun auf ihn zu konzentrieren - vielleicht sogar ihre Rettung.
Er stand am Pult und hielt sich mit seinen starken Händen daran fest. An seiner Rechten blinkte ein Siegelring mit einem blutroten Stein. Jill kam nicht umhin zu bemerken, dass er selbst im tiefschwarzen Anzug und mit rotgeränderten Augen eine 103
unwiderstehliche Ausstrahlung besaß; er sah noch immer sehr gut aus.
»Mein Bruder Hal hatte den Tod nicht verdient«, setzte er an und musste sofort aufhören, das Gesicht abwenden und um Fassung ringen.
Jill starrte zu ihm auf, und ihre Gefühle ihm gegenüber wurden milder. Er mochte sie verabscheuen, aber ihn schmerzte schließlich der Verlust seines Bruders. Gestern Abend hatte sie zu Alex gesagt, dass sie einander trösten sollten. Das glaubte sie auch jetzt noch.
Aber Thomas war zu wütend, um ihr zu erlauben, ihn zu trösten oder zu bedauern, oder auch nur, Schmerz und Trauer mit der Familie zu teilen.
»Hal hatte den Tod nicht verdient«, wiederholte Thomas; er machte eine Pause, sein Kiefer spannte sich. Sein Blick schweifte über
die Versammlung, er sah jeden einzelnen an. Nur nicht Jill.
»Niemand verdient den
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