Kates Geheimnis
Ich bin sicher, dass ich mich an seinen Namen erinnern würde, wenn ich 174
etwas über ihn gelesen hätte. Das war ein großer Skandal, liebe Jill, damals, 1908. Ein großer Skandal.«
Jill schwieg und dachte darüber nach, wie es damals gewesen sein musste. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie Kates Familie und Freunde auf ihr Verschwinden reagiert haben mochten. »Glauben Sie auch, dass sie mit ihrem Geliebten weggelaufen ist?«, fragte sie schließlich.
»Meine Liebe, das habe ich mich immer gefragt.
Aber, offen gestanden, ich habe keine Ahnung. Anne hat zwar meiner Vorgängerin erzählt, dass es einen Geliebten gab, aber was, wenn sie sich geirrt hat?
Vielleicht gab es gar niemanden.«
»Dann ist Kate etwas Schreckliches zugestoßen«, sagte Jill schaudernd.
»Ihre Familie war sehr wohlhabend. Vielleicht wurde sie gekidnappt, aber es ist etwas schief gegangen. Ich glaube, das war eine der Theorien, die damals kursierten.«
»Danke, Lucinda.«
»Wollen Sie demnächst wieder nach London kommen?«
»Na ja, das überlege ich gerade. Aber ich schätze, ich sollte Kate einfach vergessen und wieder zur Arbeit gehen.« Die Vorstellung war nicht verlockend.
Die beiden Frauen unterhielten sich noch ein bisschen und verabschiedeten sich dann. In Jills Kopf 175
schwirrte es. Wie konnte sie nicht nach London zurückkehren? Irgendetwas zwang sie fast dazu, als würde sie ihren Frieden mit Hal nie machen, wenn sie nicht mehr über Kate herausfand.
Sie konnte wieder nach London fliegen, oder sie konnte zur Arbeit gehen. Gar keine Frage, was sie lieber wollte.
Ich muss verrückt sein, dachte sie, auch nur mit dem Gedanken zu spielen, nach London zurückzukehren, um eine Frau aufzuspüren, die nur vielleicht eine Verwandte, aber vor allem vor einundneunzig Jahren verschwunden ist.
Aber Kate verfolgte sie, beherrschte ihre Gedanken, und sie musste einfach herausfinden, was mit ihr geschehen war. Jill wurde klar, dass sie sich nichts so sehr wünschte wie zu erfahren, dass Kates Leben ein glückliches Ende gehabt hatte, selbst wenn sie keine vergessene Verwandte war.
Im Moment war die Vorstellung, ihr Gerechtigkeit zu verschaffen, sehr verlockend - aber flüchtig wie ein Regenbogen.
»Ezekial«, lockte sie leise.
Urplötzlich tauchte er auf der Arbeitsplatte der Küche auf und starrte sie an. Seine Augen waren grünlich golden. Sie ging zu dem Kater hinüber und streichelte sein Fell. Ezekial begann zu schnurren.
Jill lächelte schief, und Tränen schossen ihr in die Augen. Aber sie fühlte sich besser, denn sie musste 176
einfach zurückkehren - und sie spürte, dass die Entscheidung wichtig war. Um die Einzelheiten würde sie sich morgen kümmern - und um die Finanzen. Sie ging ins Bad, um zu duschen. Aber Hals Rasierer lag auf ihrem Waschbecken, sein Shampoo stand in der Dusche. Fluchend verließ sie das Bad. Sie musste dringend seine Sachen loswerden. Auf einmal fiel ihr ein, dass Klamotten von ihm in ihrem Schrank hingen, Jeans in ihrer Kommode lagen. Wahrscheinlich waren sogar noch Kondome in der Schublade ihres Nachttischchens.
Jill wusste, dass sie der Aufgabe nicht gewachsen war, sich seiner Sachen zu entledigen.
Sie fühlte sich jämmerlich, und das lag nur teilweise an Erschöpfung und Jetlag. Sie waren zu oft in ihrem Apartment miteinander glücklich gewesen.
Sie konnte hier nicht bleiben - jetzt noch nicht.
Als Jill am nächsten Morgen aufwachte, dachte sie zuerst an Hal. Sie hatte wieder von Kate geträumt. Sie konnte sich nicht genau an den Traum erinnern, aber er hatte sich drängend und beunruhigend angefühlt, und sie war fast sicher, dass Hal auch darin vorgekommen war, und ein finsterer, gesichtsloser Fremder.
Dann erinnerte sie sich an ihre Entscheidung, nach London zurückzukehren, und entspannte sich allmählich. Auf jeden Fall fühlte sie sich schon besser als in den vergangenen Tagen. Zumindest würde ihre 177
Suche nach der Wahrheit über Kate Gallagher sie beschäftigen, und das war gut so. Diese Ablenkung würde sie sicher vor dem völligen Zusammenbruch bewahren. Sie würde Last Minute fliegen, und das einzige Problem war, eine wirklich billige Unterkunft in London und einen Untermieter für ihr Apartment zu finden.
Jill duschte und rief dann Goldman an, den Choreographen von The Mask . Sie erfuhr, dass man in ihrer Abwesenheit einen Ersatz für sie engagiert hatte. So lief das eben am Broadway, wenn eine Tänzerin nicht zur Probe erschien. Jill fühlte sich
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