Kates Geheimnis
Gastfreundschaft.« Sie bemühte sich, höflich zu sein, damit sie endlich gehen konnte. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte, aber selbst in ihren eigenen Ohren hatten diese Worte einen sarkastischen Unterton.
Seine schön geschwungenen schwarzen Brauen hoben sich. »Wir waren nicht einmal wirklich höflich.
Und dabei sind die Briten doch für ihre Höflichkeit berühmt.«
»Ich werde mich nicht beschweren.« Ungeduldig schaute sie durch die offene Haustür zu dem Wagen, der in der Einfahrt wartete. »Das ist nett von dir. Aber du scheinst mir nicht zu der übermäßig duldsamen Sorte Frauen zu gehören.«
»Ich bin sehr müde, Alex«, erwiderte Jill knapp; ihr war nicht nach Geplänkel zu Mute. »Die letzten paar Tage waren wirklich scheußlich.« Kate Gallagher war im Alter von achtzehn Jahren verschwunden. Damit hätte Jill niemals gerechnet.
Und nun lagen ihr ein Dutzend Fragen auf der Zunge, Fragen, die ihr vorher gar nicht eingefallen waren, so geschockt war sie von der Bombe, die 164
Lucinda hatte platzen lassen. Lauren hatte darauf bestanden, dass sie kurz darauf zum Lunch aufbrachen. Aber Lucinda hatte Jill eingeladen, jederzeit vorbeizuschauen - und sie hatte ihr sowohl Janet Witcombes als auch ihre eigene Telefonnummer gegeben.
Jill wünschte fast, sie müsste London nicht verlassen.
»Ja, wirklich scheußlich«, sagte Alex. »Aber ich habe gehört, du hattest einen tollen Tag in Uxbridge Hall.«
Jill starrte ihn entgeistert an. Konnte er Gedanken lesen? »Wie macht ihr das in dieser Familie - benutzt ihr Buschtrommeln?« »Wir stehen uns alle sehr nahe«, entgegnete er trocken.
»Es war sehr interessant.« Jill zögerte, denn sie hätte ihm gern erzählt, was sie erfahren hatte. Aber sie widerstand der Versuchung.
»Wie lange lebst du schon hier, Alex?«
Er sah sie an. »Warum?«
»Ich habe mich nur gefragt, ob du etwas über die Geschichte der Familie weißt.«
»Über die Geschichte der Familie - oder über das angebliche Verschwinden von Kate Gallagher?« Er sah ihr direkt in die Augen. Sie glaubte zu erröten.
Also hatten er und Lauren sich über sie ausgetauscht.
Sie brauchte sich nicht zu wundern, wenn Lauren auch Thomas alles über ihren Ausflug erzählt hatte.
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Natürlich hatte sie das. »Kannst du es mir übel nehmen, wenn ich neugierig bin?« »Ich denke, du brauchst einfach Ablenkung, und deine Faszination für Kate Gallagher bietet sie dir. Aber um deine Frage zu beantworten, ich wurde in diese Familie aufgenommen, als meine Mutter starb. Ich war damals vierzehn. Ein paar Jahre später habe ich London wieder verlassen, um in Princeton zu studieren, danach war ich noch auf der Akademie in Wharton. Vor genau zehn Jahren bin ich nach London zurückgekehrt. Und nein, ich weiß so gut wie gar nichts über sie.«
»Über Anne musst du doch etwas wissen«, beharrte Jill.
»Kaum.« Er blieb stumm.
Jill fand das nicht sehr glaubhaft. Andererseits hatte Hal ihr einmal erzählt, dass Alex nur für seine Arbeit lebte. Jill erinnerte sich jetzt ganz deutlich daran.
Vielleicht lebte er in einer Art Vakuum. Aber das glaubte sie nicht. Sie besaß eine recht gute Menschenkenntnis, und Alex erschien ihr scharfsinnig und aufmerksam. »Ich weiß, wie - das ist«, sagte sie langsam, »wenn man kaum Verwandte hat.«
Er starrte sie stumm an.
»Meine Eltern kamen ums Leben, als ich fünfeinhalb war.« Ihre Miene verdüsterte sich. »Es war ein Autounfall. Fasst man das?« Plötzlich fühlte sie wieder diesen schrecklich stechenden Schmerz.
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Für eine kurze Weile hatte sie eine Familie gehabt -
Hal war zu ihrer Familie geworden - und sie hatte immer angenommen, dass sie eines Tages selbst Kinder haben würde. Alle diese Träume waren nun für immer zerschlagen. »Das Schlimmste ist; dass ich mich einfach nicht an sie erinnern kann. Ich habe überhaupt keine Erinnerung an meine Eltern.« Aber sie hatte Erinnerungen an Hal.
Und die musste sie irgendwie festhalten - nichts und niemand durfte sie trüben.
Diese Aufgabe ragte wie ein Berg vor ihr auf.
Es herrschte Schweigen. »Worauf willst du hinaus?«, fragte Alex schließlich.
»Deine Mutter ist gestorben, und die Sheldons sind deine Familie geworden. Ich glaube, sie bedeuten dir sehr viel. War Anne nicht weit über achtzig, als sie starb?« Jill hielt seinem Blick stand.
»Ja.«
»Und du bist jetzt -
dreiunddreißig?
Vierunddreißig? Fünfunddreißig?«
»Du bist verdammt hartnäckig«, sagte Alex, aber ohne echte
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