Kates Geheimnis
eigenartig erleichtert, machte sich Kaffee und aß einen Bagel. Dann griff sie wieder zum Telefon. In London war es jetzt früher Abend, und Jill wollte mit Janet Witcombe sprechen. Aber die Frau, die in dem Pflegeheim ans Telefon ging, sagte ihr, dass Mrs.
Witcombe schon zu Bett gegangen sei. Jill war enttäuscht.
Sie stand auf, um sich noch einen Kaffee einzuschenken, während Hal und Kate ihr ständig vor Augen standen. Plötzlich lief ihr ein Schauder über den Rücken. Da war eine Frage, die zu stellen sie sich bisher gescheut hatte, auch sich selbst gegenüber. Es war eine Frage, die sie nicht einmal denken wollte, geschweige denn aussprechen. Hatte Hal sich nur wegen seiner Vorfahren für Uxbridge Hall interessiert? Oder war es ihm auch um Kate Gallagher gegangen?
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Jill fürchtete sich vor der Antwort.
Sie sagte sich, dass sie albern sei. Sie hatte keinen Grund, die Antwort auf diese Frage zu fürchten, überhaupt keinen. Jill schauderte es wieder. Sie fror, und es schien ihr, als sei die Temperatur plötzlich gefallen; sie schloss die Fenster und schlüpfte in ein viel zu großes Sweatshirt. War ihm, wie Lucinda, ihre Ähnlichkeit aufgefallen?
Jill fühlte sich unwohl. Aber wenn sie Kate wirklich ähnlich sah, dann war das ein deutlicher Hinweis auf eine genetische Verbindung zwischen ihnen. Oder nicht?
Abrupt schob Jill Teller und Becher beiseite. Sie stand auf und ging ins Bad. Sie knipste das Licht an und starrte auf ihr Gesicht im Spiegel.
Sie hatte noch nie schlechter ausgesehen, aber daran waren Trauer und Erschöpfung schuld, und ein wenig Make-up würde die Sache richten. Sie betrachtete ihr Spiegelbild. Sie hatte haselnussbraune Augen, und sie war sicher, dass Kates dunkelbraun waren. Ihr Haar hatte einen Kastanienton, und Kates war rot. Aber vielleicht war da doch eine gewisse Ähnlichkeit. Jill hatte eine gerade, zierliche Nase - Kates wirkte fast römisch. Trotzdem, Jill hatte ein ähnlich kräftiges Kinn, die breite Stirn und die hohen Wangenknochen.
Und dann war da noch der Leberfleck.
Jills Muttermal war so hell wie eine Sommersprosse, nicht dunkel wie Kates. Kate hatte das Muttermal nahe am Mundwinkel gehabt. Jills saß 179
ein bisschen höher, mehr zur Wange hin.
Unwillkürlich griff Jill unter das Waschbecken, wo sie in einem Körbchen ihr ganzes Schminkzeug aufbewahrte. Sie holte einen braunen Kajal hervor und tupfte damit auf den Leberfleck.
Jills Hände zitterten. Langsam strich sie ihr kinnlanges Haar aus dem Gesicht und schob es auf dem Hinterkopf zusammen. Kate hatte langes, lockiges Haar gehabt, das sie entweder offen oder in einem Knoten getragen hatte.
Jill starrte sich mit klopfendem Herzen an. Einen Augenblick lang glaubte sie, Kate schaue aus dem Spiegel zurück. Eine wunderschöne, lebenslustige, energische Frau der Jahrhundertwende ... und dann verflog der Augenblick.
Jill ließ die Arme herabfallen, als hätte sie sich an ihrem eigenen Haar verbrannt.
Sie holte tief Luft und sah sich selbst in die Augen, die weit aufgerissen und von einem wilden Leuchten erfüllt waren. Sie hatte gerade nicht Kate im Spiegel gesehen - das lag alles nur an ihrer Erschöpfung und ihrer übermäßig lebhaften Fantasie. Aber sie sah Kate tatsächlich ähnlich. Da war kein Irrtum möglich.
Sie sah ihr sogar sehr ähnlich. Ähnlich genug, um ihre Schwester zu sein - oder ihre Urenkelin.
Jill hatte glückliche Erregung erwartet. Die stellte sich jedoch nicht ein.
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Denn plötzlich leuchtete die Frage in großen Neonlettern in ihren Gedanken auf: Wie konnte Hal die Ähnlichkeit nicht bemerkt haben? Die Antwort war einfach. Sie stand direkt vor ihr im Spiegel. Und eine leise Stimme flüsterte in ihrem Kopf, dass es keine Zufälle gab. Überhaupt keine. Sie wisperte: Hal und Kate. Kate und Jill. Jill und Hal. Jill hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten.
Und sie hatte Angst.
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Fünf
Tante Madeline lebte noch. Jill hatte seit vier oder fünf Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie machte ihrer Tante keine Vorwürfe, sie hatten nie wirklich viel für einander empfunden, und so war es nur natürlich gewesen, dass sie sich mit der Zeit immer weiter voneinander entfernt hatten.
Madeline war die Schwester ihrer Mutter. Ihr Vater, Jack Gallagher, hatte keine Geschwister gehabt.
Zumindest hatte Jill das immer geglaubt. Zitternd griff sie zum Telefon. Wenn sie wirklich versuchen wollte, herauszubekommen, ob Kate eine Verwandte war, dann schien Tante Madeline der nahe
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