Kates Geheimnis
liegendste Anfangspunkt zu sein.
Jill erkannte den typischen Zungenschlag des Mittleren Westens und den barschen Ton sofort.
»Tante Madeline? Hallo. Hier ist Jill.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment lang Schweigen. »Hallo, Jill. Wie geht’s?«
Es klang höflich, aber reserviert.
»Gut«, log Jill. Madeline wusste nichts über ihr Leben; es hatte keinen Sinn, ihr jetzt etwas zu erzählen. »Ich habe gehofft, dass du mir vielleicht helfen könntest. Ich versuche gerade, etwas über meinen Vater und seinen Vater herauszufinden.«
182
»Na, so was«, war alles, was Madeline dazu sagte.
Jill konnte sie sich lebhaft vorstellen, wie sie in einem Sessel in ihrem blassgrünen Wohnzimmer saß, mit einem sauberen, aber altmodischen Hauskittel, das dunkle Haar mit den grauen Strähnen, das volle, mürrische Gesicht, die Lesebrille, die auf ihrer Brust baumelte. »Hatte Jack Geschwister?« Jill wollte sich vergewissern, dass ihre Version der Wahrheit auch stimmte.
»Nein, hatte er nicht. Wenn er welche gehabt hätte, hättest du bei denen leben können anstatt bei mir.«
Jills Mund verzog sich. »Ja.« Sie fügte nicht hinzu, dass das für alle besser gewesen wäre. »Hast du Jacks Familie je kennen gelernt? Seinen Vater Peter oder seine Mutter?«
»Nein, habe ich nicht. Das sind aber komische Fragen, Jill.«
»Tut mir Leid«, entschuldigte sich Jill. »Ich bin auf der Suche nach meinen Wurzeln. Du weißt schon, nach meiner Abstammung.« »Warum?«
Jill zögerte. »Ich war vor kurzem in London, und ich bin dort auf eine Frau gestoßen, von der ich glaube, dass sie eine Verwandte von mir ist.«
Es kam keine Antwort.
Jill seufzte. »Weißt du irgendetwas über Jacks Leben? Er ist in New York geboren, nicht? Und hat er da nicht auch meine Mutter geheiratet?«
»Ja, ich glaube schon.«
183
Jill hätte sich die Haare raufen mögen. Ihre Mutter war Hausfrau gewesen, und Jack, das wusste sie, hatte als junger Anwalt in einer größeren Kanzlei gearbeitet. »Tante Madeline, weißt du, ob Peter, mein Großvater, auch gebürtiger New Yorker war?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Jill wurde klar, dass sie das hier nicht weit bringen würde. »Gibt es irgendetwas über meine Familie, woran du dich erinnerst?«
»Nein. Da ist der Klempner an der Tür. Moment.«
Jill hörte Holz knarzen und wusste, dass ihre Tante im Schaukelstuhl gesessen hatte. Sie umklammerte das Telefon. Diesen Anruf hätte sie sich sparen können.
Fünf endlose Minuten vergingen, während derer Jill überlegte, ob sie einfach aufhängen sollte, aber sie tat es nicht. Plötzlich sagte Madeline: »Auf dem Dachboden steht eine Kiste.«
»Was?«
»Ihre Sachen. Von deinen Eltern. Ich bin fast alles losgeworden, aber einiges an Papieren und Schmuck hab ich behalten. Weiß auch nicht, wieso.«
Jill saß vor Überraschung und Erregung plötzlich kerzengerade. »Tante Madeline, du bist ein Schatz!«, rief sie.
Am anderen Ende herrschte Totenstille.
184
»Könntest du mir die Kiste schicken, als Eilzustellung? Das ist gar nicht so teuer, und ich schicke dir sofort einen Scheck, wenn ich weiß, was es gekostet hat«, sagte Jill aufgeregt.
»Na, ich weiß nicht ... «
»Bitte. Es ist sehr wichtig«, flehte Jill.
Madeline gab einen Laut von sich, den Jill als Zustimmung auffasste. Sie gab ihr ihre Adresse, Broadway Ecke Zehnte, und rang Madeline das Versprechen ab, die Kiste gleich morgen früh abzuschicken. Zufrieden legte sie auf.
Wenn sie Glück hatte, würde sie in dieser Kiste etwas finden, das sie der Wahrheit über Kate ein Stück näher brachte - oder jedenfalls über ihre Abstammung, auch wenn sie mit Kate nichts zu tun hatte. Und selbst wenn es so war, sehnte sie sich doch auf einmal danach, die wenigen Dinge für sich zu haben, die einmal ihren Eltern gehört hatten. Warum hatte Madeline ihr nicht schon vor Jahren von dieser Kiste erzählt?
Jill schüttelte den Kopf. Die Antwort war klar. Ihre Tante hatte nichts gesagt, weil sie einfach nie daran gedacht hatte.
Eines war jedenfalls sicher. Sie musste wieder nach London, so bald wie möglich. Seit sie diese Entscheidung getroffen hatte, war ihre Sehnsucht noch gewachsen, und jetzt drängte es sie fast unwiderstehlich zurück.
185
Jill ging zu der Kommode neben ihrem Bett und nahm ihr Sparbuch heraus. Wie sie befürchtet hatte, waren nicht einmal dreitausend Dollar darauf. Auf ihrem Girokonto waren nur ein paar hundert.
»Verdammt.«
Sie musste ein paar Anrufe
Weitere Kostenlose Bücher