Kates Geheimnis
machen wollte?
Plötzlich war ihr zum Weinen zu Mute. Hal hatte gesagt, dass er sie liebte - aber er hatte auch etwas mit 228
Marisa gehabt. Das war also eine weitere Lüge gewesen.
Eine unverzeihliche Lüge.
Und dann war da noch Kate.
»Alles in Ordnung?«
Alex starrte sie an. Jill nickte, obwohl nichts in Ordnung war, und fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Augen. »Es war mir doch egal, wem diese Wohnung gehört«, sagte sie.
Er sah nicht zu ihr auf. »Deine Eltern sind gestorben, als du noch sehr klein warst. Irgendwo im Unterbewusstsein war die Vorstellung, dass diese Wohnung Hal gehörte, dass er diese Art von Stabilität bieten konnte, sehr anziehend für dich.«
Jill erstarrte, denn ihr wurde klar, dass er Recht hatte.
Sie hatte andauernd Schulden, oft keine Arbeit und musste zusehen, wie sie ihre Rechnungen bezahlen konnte. Und sie war ganz allein. Aber Hal hatte eine Familie, die er liebte und von der er oft sprach, und er hatte Geld, das er nach Belieben ausgeben konnte.
Und sie hatte geglaubt, dass die Wohnung ihm gehörte.
»Nichts«, sagte Alex schließlich, während er noch eine Suche laufen ließ. Dann sagte er: »Moment mal.
Vielleicht hat Hal noch irgendwo was versteckt.« Er begann wieder, schnell etwas einzugeben.
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»Du bist wirklich gut in so was«, bemerkte Jill, die immer noch hinter ihm stand und über seine Schulter blickte. Sie war erleichtert über den Themenwechsel.
»Ja, das bin ich. Heureka! Gallagher1.doc, Gallagher2.doc, Gallagher3.doc.«
»Oh Gott«, sagte Jill aufgeregt. »Das müssen die Briefe sein.« Alex verdrehte wieder den Kopf. »Oder er hat Sachen über dich gespeichert.«
Jill erschrak - und merkte, dass Alex nur Spaß machte. »Das ist nicht witzig.«
»Sorry.«
»Mach sie auf. Fang mit der ersten Datei an.«
»Es geht nicht«, sagte Alex einen Moment später.
»Warum nicht?«, rief sie.
»Wir brauchen ein Passwort.« Er tippte weiter. Jill beobachtete, wie er es mit Gallagher, Kate, Jill, Hal versuchte. Er probierte sogar noch Anne, Collinsworth, Bensonhurst. Der Bildschirm blieb leer.
Sie verbrachten die nächste halbe Stunde damit, jedes nur denkbare Wort auszuprobieren, das ihnen zur Familie oder zu Hal einfallen wollte. »Versuch’s mal mit Fotografie«; sagte Jill schließlich verzweifelt.
Alex tippte, nichts geschah.
»Ich hab’s«, rief Jill plötzlich mit weit aufgerissenen Augen. »Als Lauren und ich in Uxbridge Hall waren, hat sie mir erzählt, dass Hal und Thomas so eine Geheimsprache hatten, als sie 230
noch klein waren. Sie haben alles rückwärts buchstabiert! Versuch’s mit Etak«, drängte sie und umklammerte aufgeregt die Lehne seines Stuhles.
»Kate rückwärts buchstabiert. Okay.« Nichts passierte. »Noch andere Ideen?«, fragte er. Und als Jill gerade vorschlagen wollte, er solle es mit Gallagher rückwärts versuchen, flogen seine Finger schon über die Tastatur. R-E-H-G-A-L-L-A-G.
Sofort füllte ein Dokument den Bildschirm aus. Jill packte Alex’
Schulter und beugte sich über ihn, ihr war schwindlig vor Aufregung.
»Es ist ein Brief«, sagte er knapp. »Vom zehnten Januar 1908. Ich drucke ihn aus.«
Aber Jill rührte sich nicht. »Stop«, flüsterte sie und legte ihre Hand auf seine. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, während sie laut vorlas: »Liebe Anne.«
Die nächste Zeile lautete: »Ich habe solche Angst.
Ich fürchte um mein Leben.«
231
Zweiter Teil
Die Herrscherin
232
Sieben
Liebe Anne,
ich habe solche Angst. Ich fürchte um mein Leben.
Oh, meine liebste Freundin, ich weiß, dass Du mich nur allzu gut verstehst und meine Neigung zum Melodramatischen kennst. Es ist nicht meine Absicht, Dich zu erschrecken, Anne. Aber in diesem Falle übertreibe ich nicht. Ich bin so allein, so verängstigt, und ich kann mich niemandem anvertrauen. Dir wage ich die Wahrheit zu gestehen.
Ich bin nicht nach Hause abgereist. Ich bin nicht in New York. Ich habe mich in einem reizenden kleinen Landhaus in der Nähe der Robin Hood Bay eingemietet. Du, meine liebste Freundin, wirst verstehen, dass ich keine andere Wahl hatte, als die Stadt zu verlassen, und mir meine Täuschung verzeihen, die mir selbst recht schmerzlich war. Anne, ich erwarte ein Kind.
Bitte verurteile mich jetzt nicht! Ich kann Dich aufstöhnen hören, das Entsetzen und das Mitleid in Deinen Augen sehen wie auch Deine Tränen. Bedaure mich nicht. Ich selbst habe nichts zu bereuen. Anne, ich liebe den Vater dieses Kindes, und ich
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