Kates Geheimnis
schrieb, verfolgte sie.
Und wenn ihr Liebhaber Kate geheiratet hatte, konnte sie natürlich nicht Jills Urgroßmutter sein.
»Dieser Blick bedeutet, dass ein Kerl, der nach der Pfeife seiner Eltern tanzt und eine Achtzehnjährige irgendwo auf dem Land versteckt, damit sie dort ganz allein ihr Kind bekommt, nicht vorhat, sie zu heiraten.« Er holte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank. »Der Typ war ein Feigling. Und ein Arsch.«
Jill beobachtete, wie er die Flasche entkorkte. Sie bekam den Brief nicht aus dem Kopf und Kates fesselnde Ausdrucksweise auch nicht. »Das ist nicht fair, finde ich. Damals hatte man doch seinen Eltern gegenüber sehr viele Pflichten. Ich glaube, man brauchte ihre Erlaubnis, um zu heiraten.«
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Alex goss ihnen zwei Gläser Pinot Grigio ein.
»Süße, ich bin ein Mann. Die Zeiten mögen sich ändern, aber nicht die Spielregeln. Liebe, Ehre, Aufrichtigkeit - diese Werte sind zeitlos. Entweder besitzt ein Mann Integrität oder nicht. Das ist eines der wenigen Beispiele im Leben, wo es tatsächlich nur Schwarz oder Weiß gibt.«
Jill starrte Alex an, sah ihn zum ersten Mal wirklich an, seit sie Kates Brief entdeckt hatten - vielleicht sogar, seit sie sich kennen gelernt hatten. Er war ein außergewöhnlicher Mann -
er hatte sich
hochgearbeitet, war erfolgreich, sehr intelligent, dabei aber sensibel und aufmerksam. Offenbar konnte er sich durchbeißen, denn sonst hätte er nie eine solche Position erreicht. Und doch war er ein moralischer Mensch. So schien es jedenfalls.
Dann dachte sie an Hal, und das tat weh. Was war mit Hals Integrität? »Du bist ein interessanter Mann«, hörte sie sich sagen.
»Eine meiner Freundinnen sagte, ich sei langweilig.«
Jill sah ihn an, und ihr Lächeln war echt. »Worüber hat sie sich beschwert? Dass du zu viel arbeitest oder dass du sie nicht heiraten willst?«
Er lächelte zurück. »Kluges Mädchen«, sagte er.
»Beides.«
Jill lächelte immer noch, bis sie merkte, dass sie fast flirteten. Sie wandte ihm erschrocken den Rücken 241
zu. Sie wollte seine Gegenwart nicht genießen, weder seine noch die eines anderen Mannes. Sie war nicht auf der Suche nach einem Mann, nur nach der Wahrheit über Kate Gallagher, sie wollte nicht einmal Alex’ Freundschaft - vor allem, weil Freundschaft zu etwas führen konnte, das sie nicht wollte.
»Wo sind deine Gedanken jetzt schon wieder?«, fragte Alex und reichte ihr ein Glas Wein.
Jill schrak zusammen. Gott sei Dank konnte er ihre Gedanken nicht lesen. »Bei dem Brief«, log sie.
Er beäugte sie skeptisch, seine schmale Hüfte immer noch an die granitene Küchenplatte gelehnt, und nippte mit offensichtlichem Genuss den eiskalten italienischen Wein. Er hatte auch eine ganz eigene Anziehungskraft, dachte sie. Und das bemerkte sie erst jetzt, wahrscheinlich, weil Hals Tod und seine Lügen sie so durcheinander gebracht hatten. Er sah nicht aus wie ein draufgängerischer Schauspieler, so wie Thomas. Wenn der einen Raum betrat, drehte sich garantiert jeder Kopf wie von selbst nach ihm um. Aber Jill zweifelte nicht daran, dass die Frauen in jenem Raum schließlich in Alex’ Richtung schauten und sich fragten, wer das wohl war.
»Du starrst mich an«, sagte er.
Jill verzog das Gesicht. »Ich habe nachgedacht.«
»Über Kate?«
»Ja.« Was für eine fette Lüge. Sie wich seinem Blick aus. Was immer hier vor sich ging, es war nicht 242
richtig. Hal war eben erst gestorben. Sie wollte Alex nicht interessant oder anziehend finden, nicht mal für einen Augenblick.
»Ich weiß, dass du viel durchgemacht hast, aber du musst es ein bisschen lockerer angehen lassen, Jill.«
Sein Ton ließ sie hochfahren. Sie sah ihn an. Er wusste, dass sie über ihn nachgedacht hatte. Er wusste wahrscheinlich auch, dass sie ihn anziehend fand. Er lächelte sie an, aber nicht, weil ihn etwas amüsierte.
Jill wusste nicht, was sein Lächeln bedeuten sollte.
Aber es war ein gutes, richtiges, ehrliches Lächeln.
»Warum sollte ich es langsamer angehen lassen?«, gab sie sofort zurück. Ihre Gedanken gerieten auf gefährliche Abwege, und sie war entschlossen, alles so zu belassen, wie es vor ihrem Treffen in dieser Wohnung gewesen war. »Damit du es bei mir versuchen kannst?«
Er riss die Augen auf. »Willst du das?«
»Zum Teufel, nein«, sagte sie und meinte es auch.
Er starrte sie an. Seine Miene verriet nicht, was er dachte. Und Stille senkte sich zwischen sie wie eine schwere, schwarze Gewitterwolke, oder eher wie
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