Kates Geheimnis
bekommen und die Frau dieses Mannes zu werden ist erst der Beginn meines restlichen Lebens. Jedenfalls bete ich darum. Wenn ich nur meine Vergangenheit bedauern, meine Sünden bereuen könnte, aber, lieber Gott, das kann ich nicht!
Bitte tadle mich nicht, wenn wir uns wiedersehen.
Ich habe die Absicht, bald nach der Geburt in die Stadt zurückzukehren. Und weil mein Aufenthalt ein Geheimnis bleiben muss - ich habe es auf die Bibel geschworen - , kann ich Dir nicht einmal eine Adresse nennen, damit Du mir schreiben kannst. Bete für mich, Anne. Deine Gebete werden zu mir dringen, Du weißt, dass ich sie spüren werde, und es wird mir schon besser gehen, wenn ich nur weiß, dass Du diese Zeilen gelesen hast und dass es Dich gibt und Du Dich um mich sorgst, mir Deine Liebe und Zuneigung von ferne sendest.
Ich vermisse Dich.
In aufrichtiger Zuneigung, Deine liebende und treueste, beste Freundin,
Kate
Jills Herz klopfte wild, während sie den Brief zu Ende las. Sie war so in Kates Worte vertieft, so von ihren Gefühlen gefesselt, dass sie völlig vergaß, wo sie war. Sie konnte Kate vor sich sehen, mit ihrem dicken Bauch, elegant gekleidet in ein weißes Kleid mit Blumenstickerei, wie sie in einem spärlich erleuchteten Landhäuschen an ihrem Schreibtisch saß 237
und diesen ergreifenden Brief an ihre beste Freundin schrieb. Der Salon, in dem sie sich befand, war wohnlich eingerichtet. Regen prasselte an die Fenster, draußen war es düster und neblig feucht. Ein Feuer knisterte unter dem hölzernen Kaminsims. Und eine griesgrämige Haushälterin in Schwarz mit einer gestärkten weißen Schürze stand in der Tür und beobachtete Kate.
»Jill? Jill, geht’s dir nicht gut?«
Alex’ Stimme weckte Jill unsanft aus ihrer Träumerei. Sie blinzelte und merkte, dass sie sich so gespannt über ihn gelehnt hatte, dass ihr Gesicht fast auf seiner Schulter ruhte. Eine Hand hatte sie neben seiner auf dem Schreibtisch aufgestützt. Ihre Blicke trafen sich. Jill brauchte einen langen und fast schmerzvollen Moment, um sich wieder in der Gegenwart zurechtzufinden. Sie richtete sich auf und rang nach Luft.
Sie war verwirrt.
Er drehte sich mit dem Stuhl herum, um sie sich genau anzusehen. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
Sie merkte, dass sie zitterte, und schüttelte den Kopf. »Arme Kate«, flüsterte sie.
»Das war ein sehr eindrucksvoller Brief. Mir tut sie auch Leid.« Er wandte sich wieder dem Computer zu und bewegte die Maus. Der Drucker begann zu summen.
238
Jill war erschüttert. Sie ging vom Schreibtisch weg und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Kate war aufs Land gezogen, um ihr Kind zu bekommen. Sie hatte eine kleine Villa in der Nähe der Robin Hood Bay gemietet, wo auch immer das sein mochte. Der Arzt hatte die Geburt für Mai angekündigt. »Kate Gallagher hat im Mai 1908 ein uneheliches Kind geboren«, sagte Jill gedehnt. Ihr Großvater Peter war 1908 in Yorkshire auf die Welt gekommen. Ein Zufall?
Alex erhob sich. »Ja, so steht es in dem Brief. Du bist ja weiß wie die Wand.« Er studierte sie unverhohlen, aber Jill war so überwältigt von dem, was sie eben gelesen hatte, und von dem Zusammentreffen der Geburtsdaten, dass sie es kaum bemerkte. »Ich glaube, du solltest ein Glas Wasser trinken, oder besser ein Glas Wein.«
Jill antwortete nicht. Hatte Kate jemals geheiratet?
Was, wenn ihr Kind ein Junge gewesen war? Was, wenn Kate nicht nur eine entfernte Verwandte von ihr war? Was, wenn sie ihre Urgroßmutter war?
Jill wusste, dass sie voreilige Schlüsse zog. Sie wusste, dass all das äußerst unwahrscheinlich war.
Aber ... Hal hatte dieses Foto geliebt, Hal und sie hatten sich geliebt, und sie selbst sah Kate so ähnlich, und Peter war in demselben Jahr geboren worden wie Kates Kind, und in demselben Land.
»Jill? Wo bist du mit deinen Gedanken?«
239
Jill fuhr hoch vor Schreck, als Alex sie ansprach. Er stand vor ihr, so dicht, dass sich ihre Knie berührten.
Sie hatte nicht gehört, wie er aufgestanden und herübergekommen war. Seine Hände umfassten ihre Schultern, und seine durchdringenden Augen sahen forschend in ihre.
Sie zog sich von ihm zurück. Sie wollte ihn nicht berühren. »Mir geht’s gut. Sie tut mir nur so Leid. Ich frage mich, ob er sie je geheiratet hat.«
Alex sah sie ungläubig an.
»Was hat dieser Blick zu bedeuten?«, fragte Jill und folgte ihm widerstrebend vom Arbeitszimmer in die Küche. Das Bild von Kate, die in dem schummrigen Landhaus an dem kleinen Pult
Weitere Kostenlose Bücher