Katharsia (German Edition)
das Krankenzimmer verließ, erschien Fatima mit einem Tablett in der Hand. „So, jetzt gibt es erst einmal etwas zur Stärkung.“
Als Sando der Geruch der Speisen in die Nase stieg, verspürte er trotz seines Kummers Heißhunger. Fatima beobachtete mit einem verständnisvollen Lächeln, wie er in seinem Bett sitzend Brot, Käse und Früchte in sich hineinstopfte. Anfangs schien es pure Verzweiflung zu sein, die ihm die Hand zum Munde führte, doch der volle Magen und die Anwesenheit von Fatima bewirkten, dass sich Sandos Stimmung besserte. Unwillkürlich verglich er Maria und Fatima miteinander und es irritierte ihn, dass Fatima – das Wesen ohne Seele – auf ihn eine ähnliche Anziehungskraft ausübte wie seine unglückliche Gefährtin. Ihn beschlich das Gefühl, Maria zu verraten, weil ihm die Gesellschaft von Fatima so wohltat.
Fatima bemerkte den Schatten, der sich über seine Miene legte. Sie griff in die Tasche ihres Schwesternkittels und holte etwas Glänzendes heraus. Erschrocken erkannte Sando, dass es sich um das Medaillon handelte.
„Ich habe es repariert“, sagte sie. „Die Kette war zerrissen. Komm, ich lege dir das gute Stück wieder an.“
Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, an der Marias Schmuck baumelte. Er ließ es zu, erleichtert, dass dem Medaillon nichts passiert war.
„Es ist schon erstaunlich“, sagte er, „es kommt immer wieder zu mir zurück.“
Dankbar sah er Fatima an.
Sie winkte ab und zauste ihm das Haar.
„Na, schöner Bursche? Den Kamm aus meinem roten Kästchen hast du offenbar nicht oft benutzt, oder?“
Die Berührung jagte Sando einen warmen Schauer über den Rücken. Ein angenehmes Gefühl, doch er gestattete sich nicht, es zuzulassen.
„Den Spiegel auch nicht“, sagte er steif und spürte, dass er Fatimas Fröhlichkeit einen Dämpfer verpasst hatte.
„Aber das Kästchen habe ich noch“, beeilte er sich zu versichern und es klang wie eine Bitte um Verzeihung.
Fatima musterte ihn aufmerksam.
„Maria fehlt dir sehr, nicht wahr?“
Sando starrte auf seine Bettdecke. Gern hätte er Fatima nach deren Besuch bei Maria gefragt, denn sie war mit Doktor Fasin bei ihr gewesen. Doch er befürchtete, auch aus ihrem Munde zu hören, dass Maria nicht Maria war.
„Diese junge Frau, die du für Maria hältst“, begann Fatima, als hätte sie Sandos Gedanken erraten, „hat mir von einem Traum erzählt, der sie sehr ängstigt. Sie träumt ihn immer wieder.“
Sando horchte auf. „Was für ein Traum?“
„Nun, vor ihr steht ein Mann, das Gesicht vermummt. Er hält ihr eine Pistole entgegen und aus seinen schwarzen Augen sprüht unbändiger Hass.“
„Der Geiselnehmer aus dem Bus!“, sagte Sando. „Er war es, der auf sie geschossen hat.“
Fatima schüttelte den Kopf. „Von einem Schuss hat sie nichts erzählt, Sando. Sie sieht die hasserfüllten Augen und wacht jedes Mal schweißgebadet auf. Ich glaube, dieser Traum ist lediglich ein Symbol.“
„Ein Symbol? Wofür?“
„Für eine Bedrohung, die sie empfindet.“
„Du glaubst also auch nicht, dass es Maria ist?“
Sando war enttäuscht.
„Ich bin mir nicht sicher. Ich denke, der Traum ist kein Beweis. Vermummte Männer gibt es in jedem zweiten Kinofilm.“
„Aber von Filmen bekommt man doch nicht solche Ängste.“
„Ach, Sando …“, Fatima lächelte nachsichtig. „Das Unterbewusstsein reagiert, wie es will, und du kannst nichts dagegen tun. Es ist eine Macht, der du nicht befehlen kannst. Ich weiß das aus eigener Erfahrung.“
„Wie meinst du das?“
Fatima winkte ab.
„Ach … nichts. Es ist nicht so wichtig.“
Doch ihre Augen sagten etwas anderes. Unstet wanderten sie durch den Raum, mieden den Blickkontakt mit Sando.
„Fatima?“
Sie seufzte und es vergingen einige Augenblicke, ehe sie sich ein Herz fasste. „Auch ich habe einen Traum, der immer wiederkehrt“, gestand sie. „Er macht mir Angst und ich weiß nicht, wo er herkommt.“
„Du hast Albträume?“, fragte Sando ungläubig. Es passte nicht in sein Bild von Fatima, deren Ausgeglichenheit er immer bewundert hatte.
„Ich sehe Männer mit Turbanen auf einem staubigen Platz, der von ärmlichen Hütten gesäumt ist. Sie rotten sich zusammen und stoßen Verwünschungen aus. Ich bin das Ziel ihres Hasses. Die Männer drohen mir, fuchteln mit den Armen. Ich möchte fliehen, doch ich komme nicht von der Stelle. Ich stecke fest im Staub. Er wirbelt auf, dringt mir in die Lungen und nimmt mir die Luft zum Atmen. Dann kommt
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