Katharsia (German Edition)
nicht wahr ist! Meinst du etwa dieses unverschämt hübsche Miststück, das heiß auf jeden Kerl war?“
Sando reagierte prompt. Sein Impuls, Lemming zu schlagen, war so stark, dass ihn die überraschten Kumpane nicht halten konnten. Seine Faust traf Lemmings Helm, sodass das Visier aufsprang.
Was Sando in der Sekunde sah, die Lemming brauchte, um das Visier wieder zu schließen, machte ihn starr vor Erstaunen. Er spürte nicht, wie er brutal zurückgerissen wurde, wie eine Hand seinen Nacken beugte, bis er mit dem Gesicht im Sand lag. Erst als Lemming über ihm war, ihm die Knie in den Rücken presste, stöhnte er auf vor Schmerz.
„Na, hast du sie gesehen? Die Narbe? Diese verfluchte Hasenscharte?“
Lemming schlug auf Sando ein. Wahllos. Er war außer sich.
„Bist du nun zufrieden, du Dreckskerl mit dem makellosen Gesicht, dass ich dein Erbe angetreten habe?“
Lemming riss sich den Helm vom Kopf, zerrte an seinem Mund, bis die Lippen bluteten. Dann kauerte er sich stöhnend in den Sand.
„Es tut mir leid … wirklich …“, presste Sando mühsam hervor, während er von mehreren schwarzen Kerlen am Boden gehalten wurde. „Ich weiß, wie einem zumute ist mit so einer Narbe.“
Lemming wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund. „Spar dir deine Höflichkeitsfloskeln. Verlogene Glattgesichter wie du haben Katharsia zu dem gemacht, was es ist: ein egoistischer Sumpf, in dem jeder nur an sich denkt! Du bist so stolz darauf, allein hier zu sein. Aber das beweist doch nur, dass du keine Freunde hast, die dir aus der Klemme helfen. Wir sind eine Kameradschaft, in der jeder für den anderen einsteht.“
Als wollten sie seine Worte bestätigen, pressten Lemmings Kumpane Sando noch fester zu Boden. Sand drang ihm in den Mund.
Wütend stieß er hervor: „Hinterhältige Gewalttäter seid ihr! Die Leute haben Angst vor euch!“ Er spuckte Sandkörner.
Lemming krampfte seine Finger um das Medaillon.
„Schon wieder so eine Lüge. Nur Klugscheißer wie du fürchten uns, weil wir etwas ändern wollen in Katharsia. Die kleinen Leute beginnen uns zu folgen. Nicht mehr lange und wir werden heraustreten aus dem Schatten.“
Langsam schien er sein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen. Bedächtig stand er auf, klopfte sich den Sand von seiner schwarzen Lederkluft und baute sich vor Sando auf.
„Der Zorn der Massen in Paris war nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was kommen wird.“ Ein Lächeln zog seine blutigen Lippen breit. „Es war zum Schreien komisch – der Ballonkopf!“
Mit vorgestrecktem Zeigefinger zielte er auf einen imaginären Gegenstand in der Luft. Seine Kumpane lachten unter den Helmen. Sando spürte, wie sich ihr Griff ein wenig lockerte.
„Du warst am Eiffelturm dabei?“
„Nicht nur ich, WIR waren dabei! Und wir werden auch übermorgen dabei sein, wenn Vitelli versucht, seine Lügen von Dresden aus zu verbreiten.“
Lemming ließ das Medaillon an der Kette kreisen. Es entstand ein leises Pfeifgeräusch.
„Einen der Lügner haben wir ja schon.“
„Ich lüge nicht. Battoni ist …“
„Willst du meine Kameraden wieder wütend machen?“, unterbrach ihn Lemming barsch. „Natürlich lügst du! Aber Battonis Tod wird euch nichts nützen. Ihr habt ihn zum Märtyrer gemacht. Unzählige Menschen werden an seiner Stelle aufstehen und das kranke Katharsia von den Ballonköpfen befreien.“
Das Pfeifgeräusch verstärkte sich.
„Gib mir das Medaillon! Bitte!“
„Was willst du noch damit? Denkst du, wir lassen dich hier wieder gehen?“
Er machte seinen Kumpanen ein Zeichen. Sie hoben Sando auf, setzten ihn in den Sand und drehten ihm die Arme auf den Rücken. Lemming näherte sich Sando mit seinem Narbengesicht. „Weißt du, warum die Menschen uns folgen werden? Weil ihr ihnen das letzte Retamin nehmen wollt.“
„Retamin ist nicht das Wichtigste“, sagte Sando und bemerkte, dass er einen Satz von Jannis dem Träumer benutzt hatte.
„So, du Schlaumeier? Was ist denn das Wichtigste?“
„Der innere Frieden! Jeder sollte …“
In Lemmings Augen sprühte der Hass.
„Stopf ihm das Maul!“, sagte er leise und Sando spürte, wie ihm ein Lederhandschuh in den Mund geschoben wurde. Er würgte an dem sandigen Ding, das nach Salz und altem Schweiß schmeckte.
„So, mein Kleiner, hör mir mal gut zu: Deine neunmalklugen Sprüche kenne ich zur Genüge. Innerer Frieden? Das klingt fabelhaft. Aber wie finde ich ihn mit dieser …?“ Er zeigte auf seine Narbe. „Ich
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