Katharsia (German Edition)
machten ein schmatzendes Geräusch.
Wellen? Er öffnete die Augen und fand sich auf dem Wasser treibend. Die Pflanzen hatten ihn offenbar losgelassen. Ihn, nicht aber den Hühnergott. Doch er wagte sich nicht mehr hinab ins tödliche Dickicht.
Vorsichtig begann er zu schwimmen. Zurück zum rettenden Ufer. Nur nicht wieder gefangen werden! Endlich spürte er wieder Boden unter den Füßen. Er kroch hinaus, fiel nackt in den Sand. In seiner Seele war Leere, so schwarz wie die kühle Nacht, die nun hereinbrach …
Münder. Schreiende Münder. Hassverzerrte Münder. Münder, die ihn anspien. Seine Füße, geschwollen vor Hitze, stapften nackt durch heißen Staub. Müde von der Last, die seinen Rücken beugte, schleppte er sich voran. Hiebe und Tritte, ein Spalier entfesselter Leiber säumte seinen Weg, unbarmherzig wie die Sonne, die den letzten Tropfen Schweiß aus seinem dürstenden Körper sog. Allmählich schwanden ihm die Kräfte.
Münder, Schläge, Füße, Sonne, Leiber … Die Bilder begannen zu laufen, als wollten sie fliehen. Und dann der Schrei, unbeschreiblich in seinem Schmerz …
Sando schreckte auf. Wo war er? Steifgefroren lag er in der Dunkelheit, kaum fähig, sich zu rühren. Sterne sahen auf ihn herab aus einem wolkenlosen Himmel. Schlafen! Er schloss die Augen und drehte den Kopf zur Seite. Sand rieselte ihm durchs Haar.
„Steh auf, Sando!“
Ein Zirpen an seinem Ohr, kaum, dass er es wahrnahm.
„Steh auf! Sofort!“
Mühsam öffnete der Junge die Augen. Was war mit den Sternen? Sie schlingerten wie Schiffe in stürmischer See. War er verrückt geworden? Litt er an einer Sinnestäuschung?
Nein, das Schlingern kam von einem Schleier, der zart und durchscheinend vor den Sternen einherschwebte. Eine Seele!
„Warst du es, der so geschrien hat?“, fragte Sando matt.
„Steh auf, der Schlaf ist der Tod!“, zirpte die Seele.
„Lass mich in Ruhe!“ Sando schloss wieder die Augen. Liegen. Einfach nur liegen. Nur nicht bewegen. Die Kälte war nicht so schlimm. Wenn dies der Tod war, dann bitte …
„Steh auf, Sando!“ Das Zirpen wurde energisch, doch Sando reagierte nicht.
„Du willst es also nicht anders …“
Und da waren sie wieder: schreiende Münder, hassverzerrte Münder, brennende Hiebe, der Schmerzensschrei …
„Aufhören!“ Sando saß steif im Sand.
Dieser Schrei! Er kannte ihn! Er hatte ihn schon gehört. Aber wo? Sandos Hirn arbeitete träge, war wie eingefroren. Doch langsam kam die Erinnerung wieder. In Paris, im Krankenhaus! Jannis’ Seele hatte ihn gestreift. Der Schrei gehörte ihm!
„Steh auf und zieh dich an!“, zirpte es dicht an seinem Ohr.
Sando gehorchte widerwillig. Seine bleiernen Glieder sträubten sich gegen jede Bewegung. Das Ankleiden wurde zur Tortur wie ein Marathonlauf. Allein die Angst vor Jannis’ Schrei trieb ihn an, hielt ihn davon ab, auf halber Strecke aufzugeben.
„Dieser Schrei, Jannis, was ist das für ein Schrei?“
Sandos Zähne klapperten vor Kälte, übertönten fast das leise Zirpen, mit dem Jannis antwortete. „Er war das Ende und der Anfang.“
Sando wurde nicht schlau daraus. „Wie meinst du das?“
„Darüber möchte ich nicht sprechen. Nicht jetzt.“
„Warum nicht?“
„Es ist nicht die Zeit.“
Jannis’ Zirpen entfernte sich.
„Du willst schon wieder fort?“
Am ganzen Leibe schlotternd warf sich Sando den Rucksack über und lief der entschwebenden Seele nach, dem zarten Schleier, der die Sterne schlingern ließ.
„Lass mich nicht allein hier!“, rief er.
Seine steifgefrorenen Glieder schmerzten mit jedem Schritt.
„Nimm den Weg zur Straße. Ich werde Hilfe schicken“, zirpte Jannis.
Rasch nahm das Schlingern der Sterne ab und bald war es am Himmel so ruhig wie eh und je. Sando war verzweifelt. Jannis hatte ihn aus einem Schlaf gerissen, aus dem er am liebsten nie wieder erwacht wäre. Einfach so. Ohne ihn zu fragen, wie ihm zumute war.
Und jetzt? Sollte er sich wirklich auf den Weg machen? Dorthin, wo Rettung winkte? Glaubte dieser Jannis wirklich, dass man ihn retten konnte? Ihn, Sando, der den Hühnergott verloren hatte? Katharsia lechzte nach Retamin. Der Mangel an dem Lebensstoff drohte alles zu sprengen, was diese Welt noch zusammenhielt. Und was tat er? Er verlor den Hühnergott, verlor die letzte Hoffnung, die Katharsia geblieben war. Wie konnte er seinen Freunden je wieder unter die Augen treten?
Während Sando noch so mit sich haderte, hatten sich seine Beine längst entschieden und den
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