Katharsia (German Edition)
Aufmerksamkeit seiner Freunde versichern, dann las er weiter: „Ich erlaube mir daher, Sie herzlich zu einem Gespräch nach New York einzuladen. Ich erwarte Sie baldigst. Samuel Wanderer – Präsident des Vereinigten Katharsia.“
Die Gefährten brauchten einige Zeit, um das Gehörte zu verarbeiten. Sandos Gefühle schwankten. Einerseits schmeichelte es ihm, vom mächtigsten Mann Katharsias mit solcher Achtung beschenkt zu werden, andererseits verhieß das Schreiben weitere Unbill. Zum Präsidenten zu stehen, war unpopulär geworden.
In Gregors Gesicht spiegelten sich ähnlich widerstreitende Empfindungen.
„Also … ich weiß nicht“, sagte er zögernd, „wie kommt er darauf, dass unser Weg der seine ist? Ich zweifle ja nicht an seinen guten Absichten, aber … die Gründung einer Truppe wie das KORE hätte ich nie zugelassen.“
„Er hatte Battoni vertraut“, hielt Nabil entgegen.
Gregor ließ das nicht gelten. „Das mag ja sein, aber nach dem Skandal um seinen Berater hätte er das KORE wieder auflösen müssen.“
„Das ist sicher leichter gesagt als getan“, wandte Ben ein. „Wer weiß, welchen Zwängen er unterworfen ist.“
Gregor winkte ab. „Das ist es, was ich bei Politikern nicht mag. Sie entscheiden nach Zwängen, nicht nach ihrer Überzeugung.“
„Vielleicht ist Wanderer einfach nur zu feige, das KORE aufzulösen …“, setzte Sando noch einen drauf.
Ben widersprach heftig. „Also, wenn du ihm etwas nicht vorwerfen kannst, dann Feigheit. Ohne seine Standhaftigkeit wärst du nicht hier, Sando.“
„Wie meinst du das?“
„Wanderer hat immer darauf bestanden, dass Retamin für Neuankömmlinge zur Verfügung gestellt wird – eine sehr unpopuläre Haltung, die ihm jetzt zum Verhängnis werden kann.“
Sando erwiderte nichts. Er wusste, dass Ben Recht hatte.
Auf dem Tisch lag der Brief des Präsidenten. Sando nahm ihn, betrachtete die energischen Schriftzüge.
„Er hat ihn mit der Hand geschrieben“, sagte er erstaunt.
Vitelli, der die Debatte aufmerksam verfolgt hatte, erhob sich von seinem Platz.
„Es steht mir nicht zu, Ihnen einen Rat zu erteilen“, sagte er, „aber …“ Er unterbrach sich.
Ben sah ihm gerade ins Gesicht und forderte ihn auf, frei zu sprechen.
Vitelli sagte daraufhin nur einen Satz: „Reden Sie mit ihm, nicht über ihn!“
Noch am selben Tag machten sie sich auf die Reise.
Bei der Überquerung des Atlantiks zeigte Vitellis Interkontinentalgleiter, was in ihm steckte. Es dauerte kaum zwei Stunden, bis die New Yorker Skyline vor den Cockpitfenstern auftauchte.
Sando war während seines Erdendaseins nie in New York gewesen. So konnte er kaum Unterschiede zur katharsischen Variante feststellen. Das einzige, was ihm sofort ins Auge fiel, waren die intakten Twin Towers. Deren Kontur würde er nie vergessen. Er mochte sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, als er Filmaufnahmen der einstürzenden Wolkenkratzer gesehen hatte. Seinem Schock über den Terroranschlag waren Erklärungsversuche des Vaters gefolgt. Er hatte Worte wie „Verblendung“ und „religiöser Wahn“ gebraucht, doch damit hatte er, Sando, nichts anfangen können, denn sie lagen außerhalb seiner Erfahrungswelt. Nur das Argument „Hass“ hatte er verstanden. Dieses Gefühl war ihm schon damals vertraut gewesen. Es trug den Namen Mike Lemming und äußerte sich als Brennen, das immer dann schmerzhaft in seiner Seele fraß, wenn ihn der Junge aus der Nachbarschaft mit seiner Häme verfolgte. Nie aber hätte ihn dieses Gefühl dazu bringen können, sein Leben wegzuwerfen, um den anderen mit ins Verderben zu reißen. Wie abgrundtief musste der Hass derjenigen gewesen sein, die die Flugzeuge gesteuert hatten? Diese Frage hatte ihn lange verfolgt, bis in seine Albträume hinein, und sein Urvertrauen in die Güte des Menschen, in seine Fähigkeit zur Vernunft, war nachhaltig erschüttert worden.
Unverwandt starrte Sando zum Fenster des Gleiters hinaus. Die berühmten Zwillingstürme aus der Vogelperspektive betrachtend, wurde ihm mit überdeutlicher Klarheit bewusst, dass deren irdisches Schicksal eng mit seinem eigenen verknüpft war. War es nicht derselbe Hass gewesen, der sie in Schutt und Asche gelegt und der ihn getötet hatte? Ein Hass, dessen Ursprung schon fast tausend Jahre zurücklag?
Er holte sich die Situation der Geiselnahme ins Gedächtnis zurück. „Für euch hat Gott nur die Hölle!“ Diesem Spruch des Islamisten, der sein Todesurteil bedeutet hatte, war eine
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