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Katharsia (German Edition)

Katharsia (German Edition)

Titel: Katharsia (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Magister
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leise gezischte Anschuldigung vorausgegangen: „Kleiner Kreuzritter!“ Sando erinnerte sich seiner Verwunderung, weil ihm der Vorwurf so abwegig erschienen war. Heute verstand er den Sinn dieser Worte, denn er hatte die Blutorgie der Kreuzfahrer in Jerusalem miterlebt.
    Sando seufzte, horchte in sich hinein. Ein seltsames Gefühl hatte Besitz von ihm ergriffen: Er war Teil eines mächtigen Stroms, der aus der Vergangenheit kam und alles mit sich führte, was die Menschen jemals gedacht und getan hatten. Welche Idee auch immer geboren, welche Schlacht auch immer geschlagen wurde, der Strom nahm es auf, trug es weiter. Nichts wurde je vergessen, es wirkte unerbittlich fort, bestimmte das Fühlen und Tun der nachfolgenden Generationen. Und Sando sah, wie der Hass, den die Kreuzfahrer einst im Namen Christi entfacht hatten, als gefährliches Treibgut durch die Zeiten driftete, Tod und Verhängnis verbreitete und nach beinahe tausend Jahren noch ein so stolzes Bauwerk wie die Twin Towers mit beängstigender Leichtigkeit zum Einsturz brachte.
    Während er diesen Gedanken nachhing, waren die Zwillingstürme aus seinem Blickfeld verschwunden. Der Gleiter beschrieb einen großen Bogen um das Stadtgebiet.
    „Ein Überfliegen von New York ist verboten“, erklärte Vitelli. „Eine Vorsichtsmaßnahme seit der irdischen Twin-Towers-Katastrophe. Offen gestanden finde ich es ein wenig übertrieben, denn Terroranschläge dieses Ausmaßes kennen wir hier nur vom Hörensagen.“
    Kurze Zeit später gingen sie außerhalb der Stadt auf einem kleinen Landeplatz nieder. Als sie den Gleiter verließen, eilte ihnen eine Frau in einem eleganten, körperbetonten Kostüm entgegen. Trotz der hochhackigen Pumps, deren Klappern auf dem glatten Asphalt an einen Stepptanz erinnerten, lief sie souverän, ohne eine Spur von Unsicherheit. Ihre blauen Augen schauten offenherzig drein. Ein freundliches Lächeln umspielte die leicht getönten Lippen. Die Grübchen, die sich dabei auf ihren Wangen zeigten, wirkten ebenso sympathisch wie die weiche Geste, mit der sie eine Strähne ihres blonden Haars aus der Stirn strich.
    „Im Namen des Präsidenten heiße ich Sie herzlich willkommen“, sagte sie mit dunkler Stimme. „Mein Name ist Brandau, Heide Brandau. Ich bin die persönliche Referentin des Herrn Wanderer.“
    Angetan von ihrer Erscheinung trat Nabil auf sie zu. „Sehr angenehm. Rachid … Nabil Rachid.“
    Während er dies mit tiefster Stimme brummte, führte er ihre Hand an seine Lippen und hauchte einen Kuss darüber.
    Wie peinlich , dachte Sando und verdrehte die Augen.
    Mrs. Brandau, Aufmerksamkeiten dieser Art offenbar gewöhnt, nahm sie mit einem Lächeln zur Kenntnis. Nachdem sich auch die anderen vorgestellt hatten, bat sie die Gäste, ihr zu folgen.
    „Der Gleiter des Präsidenten steht bereit. Mr. Wanderer erwartet Sie im Schattenhain.“
    „Schön“, freute sich Ben. „Ich habe von dem Hain gehört, bin aber nie dazu gekommen, ihn mir anzusehen.“
    Mrs. Brandau, im Vorausgehen, sagte über die Schulter: „Der Präsident hält sich oft dort auf.“
    Sando wollte noch fragen, was es mit diesem Schattenhain auf sich hatte, kam aber nicht dazu, denn sie erreichten den Gleiter. Aus der chromblitzenden, schwarzen Karosse, die aussah wie eine Oldtimerlimousine, bei der man die Räder vergessen hatte, sprang ihnen ein junger Mann entgegen. Unter dessen Jackett erspähte Sando für einen kurzen Moment einen Schultergurt mit Halfter.
    Der Mann riss die Türen auf und sie stiegen ein. Das sanfte Schwanken der schwebenden Karosse vermittelte den Eindruck einer extrem weichen Federung.
    „Schattenhain!“, befahl der Mann dem Bordcomputer, als sie ihre Plätze eingenommen hatten.
    Das Mobil jagte durch die Häuserschluchten der Stadt, vorbei an grellbunt flackernden, überdimensionalen Leuchtreklamen. Auch hier wurden die verschiedenen Flugtrassen von einem zentralen Computer gesteuert. Sando wunderte sich, dass sich auf ihrer Flugebene kein weiterer Gleiter befand, obwohl sich auf mehreren Ebenen unter ihnen die Mobile drängten. Wie eng aufgefädelte Perlenketten schlängelten sie sich dahin und ließen kaum einen Durchblick auf die Straße in der Tiefe zu.
    „Das New Yorker Steuerzentrum weist dem Präsidentengleiter grundsätzlich eine eigene Flugebene zu“, erklärte der Sicherheitsmann, der Sandos fragenden Blick bemerkt hatte.
    „Damit er schneller ans Ziel kommt“, vermutete Sando.
    „Dies ist nur ein angenehmer Nebeneffekt.

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