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Katharsia (German Edition)

Katharsia (German Edition)

Titel: Katharsia (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Magister
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erhob sich und bat seine Gäste, ihn auf einen Spaziergang zu begleiten.
    „Wir sollten uns das Gleichnis aus der Nähe ansehen …“
    Er bot Mrs. Brandau seinen Arm und trat mit ihr aus dem Schutz des Sonnensegels. Sie liefen hügelabwärts durch die sengende Hitze. In ihren hochhackigen Schuhen überragte sie ihren Chef beinahe um Haupteslänge. Wenn sie sprach, beugte sie sich ein wenig zu ihm hinab. Den Präsidenten schien das nicht zu stören. Er unterhielt sich angeregt mit ihr, während sie auf einen der vielen Wege zusteuerten, die die goldene Ebene durchzogen.
    „Er schmückt sich mit ihr“, hörte Sando Massef hinter sich raunen – und darauf die Stimme Vitellis: „Neidisch?“
    Die beiden Journalisten lachten verhalten.
    Sando hörte nicht weiter hin, denn sie hatten den Schattenhain erreicht. Beklommen betrachtete er die zarten getreideartigen Gebilde, die zu beiden Seiten ihren Weg säumten, jedes ein Symbol für die Seele eines Opfers.

DER SCHATTENHAIN
    Die filigranen Kunstwerke standen auf dem Feld wie erstarrt. Reglos hingen die kleinen Metallzylinder, die aussahen wie stilisierte Ähren, an den dünnen Hälmchen. Kein Windhauch setzte sie in Bewegung, entlockte ihnen einen Ton. Das glockenklare Klingen, das über der Ebene lag, kam von fern. Hier stand die Luft still in der flirrenden Hitze. Unbarmherzig brannte die Sonne. Ihr Licht wurde von dem metallischen Getreide gleißend zurückgeworfen.
    Sando kniff die Augen zusammen. Es kostete ihn Überwindung weiterzugehen, Samuel Wanderer zu folgen. Endlich erreichten sie einen der zahlreichen goldenen Torbögen, die sich wie Mahnmale im Gelände erhoben. Er trug die Inschrift: „Im Namen Gottes“ . Die schwarzen Lettern wirkten auf Sando wie eine Drohung. Mit einem Kribbeln im Magen folgte er den anderen durch das Tor.
    Dahinter war plötzlich alles anders. Sie waren in einen Schatten geraten, mitten in dem Feld, über dem die Sonne brannte! Die Halme hatten ihren Glanz verloren, wirkten nahezu schwarz. Wind kam auf. Die metallenen Ähren bewegten sich, stießen einander an. Jetzt war es ganz nah, das anrührende Klingen.
    „Das Klagen der Opfer“, sagte Sando leise.
    Am Weg stand eine goldene Tafel. „König Karl IX.“ war darauf geschrieben.
    Sando kramte in seinen Erinnerungen. Ihm war, als hätte er von diesem König schon einmal gehört, doch er kam nicht darauf, was es war. Wanderer machte keine Anstalten, etwas zu erklären. Achtlos lief er an der Tafel vorüber.
    Hinter Sando raunte Heide Brandau: „Bartholomäusnacht!“
    Jetzt ging ihm ein Licht auf: Unter der Herrschaft Karls IX. schlachteten Katholiken in Paris während einer einzigen Nacht Zehntausende „ketzerische“ Hugenotten ab.
    „Im Namen Gottes …“, murmelte Sando für sich.
    Inzwischen hatten sie den Schatten des französischen Königs wieder verlassen. Sie passierten weitere Tafeln. Sando sah arabische Schriftzeichen, Namen von Herrschern und Gotteskriegern, die im Namen Allahs getötet hatten. Glanzlos standen die Halme in deren dunklem Bannkreis und sangen ihr Trauerlied. Doch auch hier hielt sich Samuel Wanderer nicht auf. Offenbar strebte er ein ganz bestimmtes Ziel an.
    Nach etlichen Richtungswechseln machte er endlich Halt. Er wies auf die schwarze Inschrift einer goldenen Tafel und las laut vor: „Papst Urban II.“
    Sando sah Wanderer fragend an. „Warum haben Sie ausgerechnet nach ihm gesucht?“
    Der Präsident schwieg, schaute in die Runde. Sein Blick blieb an Ben hängen. Wanderer erwartete offenbar die Antwort von ihm.
    Ben schien in Gedanken versunken zu sein, er starrte unverwandt auf das Feld hinaus. Endlich sagte er: „Papst Urban II. hatte zum Ersten Kreuzzug aufgerufen.“
    „Siehst du, wie weit sein Schatten reicht, Sando?“, fragte Samuel Wanderer. „Jede Ähre darin entspricht einem Menschen, der durch Urbans Kreuzzug im Namen Gottes zugrunde gegangen ist.“
    Sando folgte mit den Augen der Grenze des Schattens. „Es ist unvorstellbar“, sagte er betroffen.
    Die anderen blieben stumm, ließen das Gleichnis des Schreckens, dem eine seltsame Poesie innewohnte, auf sich wirken.
    Wanderer wartete eine Weile, ehe er fortfuhr: „Doch Wesen dieses Ortes ist für mich nicht allein Trauer und Anklage.“
    Er berührte die goldene Tafel mit der Hand. Eine Tastatur tat sich auf.
    „Kommen Sie her. Ich will Ihnen zeigen, was mich immer wieder in diesen Hain zieht.“
    Er tippte einige Buchstaben an, zuerst ein B, dann ein E, es folgte ein

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