Katharsia (German Edition)
Angst?“
Erst jetzt ging Sando auf, dass ihr Besuch in der Zelle für Doktor Fasin nichts anderes gewesen war als der Gang durch einen leeren und langweiligen Raum.
„Im Moment baden wir in einem Durcheinander aus Rümpfen, Köpfen, Armen und Beinen“, sagte Sando schaudernd. Er hielt die Hand in Höhe seines Bauchnabels. „Seelenteile bis hier hin!“
Doktor Fasin hob rasch seine Arme, als zöge er sie aus unangenehm kaltem Wasser. „Aber … wie ist das möglich?“
Vergeblich versuchte er, dem Warngerät an seinem Schutzanzug einen Ton zu entlocken.
Zu Sandos Schauder gesellte sich Zorn.
„In der Zelle befanden sich Hunderte von Seelen!“, rief er empört. „Der Raum war bis zur Decke angefüllt mit ihnen! Und am Boden lagen unzählige, die es nicht überstanden haben! Sie wurden in die Schleuse geschoben … von denen, die noch die Kraft dazu hatten. Wie kann man Gefangene nur so … Es ist …“ Er suchte nach Worten.
„Ich kann es mir nicht erklären, Sando!“ Doktor Fasin war ratlos. „In einer Zelle dürften eigentlich nur zwanzig Seelen untergebracht werden. Natürlich können wir das längst nicht mehr einhalten. Dreißig sind inzwischen die Regel. Aber doch nicht Hunderte!“
Er bückte sich, tauchte mit dem Kugelhelm in die Seelenmasse und förderte das Sauggerät zutage. Bedauernd blickte er Sando an. „Es muss sein, leider.“
Sando schloss die Augen, als das Sauggeräusch ertönte.
Der Inhalator war prall gefüllt, als sie die Schleuse verließen und sich auf den Rückweg zum Zentralbau machten.
„Was geschieht eigentlich mit den Seelenteilen?“, wollte Sando wissen.
„Das frage ich mich auch gerade“, sagte Doktor Fasin. „Bisher gab es für uns diese Reste gar nicht, weil die Geräte sie nicht wahrnehmen konnten.“
„Aber es muss doch auffallen, wenn so viele Seelen einfach verschwinden.“
„Das schon … Aber bislang waren sich alle Experten einig, dass die fehlenden Gefangenen ihren Frieden gefunden haben und vergangen sind.“
Vergangen , dachte Sando bitter. Eingegangen in die Welt der Harmonie, die nach Katharsia kommen soll.
„Kann denn eine gequälte Seele vergehen?“, fragte er vorwurfsvoll.
Doktor Fasin schaute ihn kummervoll an. „Zu meiner Entschuldigung kann ich nur anführen, dass wir keine andere Erklärung für das Verschwinden der Seelen hatten. Geflohen konnten sie nicht sein. Nicht in diesem Ausmaß. Du hast die Sicherheitsmaßnahmen gesehen.“
Es ruckelte leicht. Ihr Gefährt passierte eine Weiche. Ein vollbesetztes Fahrzeug kam ihnen entgegen. Die Männer darin trugen Schutzhelme unter der durchsichtigen Kokonkugel. Es handelte sich offenbar um Bauarbeiter, die zur Baustelle am Ende des Traktes fuhren.
Doktor Fasin sah ihnen nach.
„Ich hoffe, der neue Trakt bietet genügend Platz“, sinnierte er. „Die Seelenteile müssen sicher verwahrt werden. Wer weiß, was daraus entstehen kann …“
Sie erreichten die zentrale Halle. Mit ihren Stiefeln weißliche Spuren hinterlassend, liefen sie über die rot gekennzeichneten Wege zu dem Gebäude, in dem sich Doktor Fasins Sprechzimmer und Sandos kleiner Raum befanden.
Sie betraten den Korridor, dessen Glaswände Einblicke in die dahinter liegenden Räume gestatteten. Im Vorbeigehen sah Sando erschöpfte Wachleute auf Stühlen sitzen, die Kugelhelme auf dem Schoß. Er sah Uniformierte, die etwas in eine Tastatur tippten, telefonierten oder bei einer Tasse Kaffee etwas besprachen. In etlichen Räumen befanden sich große Glaskästen, vor denen Männer in voller Schutzkleidung saßen und konzentriert hineinschauten.
Was mag wohl darin sein , fragte sich Sando und versuchte, einen Blick in ein solches Gefäß zu erhaschen. Es war nicht einfach, denn jedes Mal, wenn er an einem solchen Raum vorbeikam, stand jemand mit breitem Rücken zwischen ihm und dem Objekt seiner Neugier.
Fast hätte er es aufgegeben, als sich ihm plötzlich doch ein freier Durchblick bot. Er blieb wie angewurzelt stehen.
„Doktor Fasin!“, rief er und der Klang seiner Stimme veranlasste den Doktor, der vorausgegangen war, sofort umzukehren.
„Was ist, Sando? Was siehst du?“
„Sie sollen sofort aufhören!“
Impulsiv riss er die Tür des Raumes auf, in dem die Männer saßen.
„Aufhören!“, schrie er. „Warum macht ihr das! Sie krümmt sich vor Schmerz! Sie hält es nicht aus!“
In der Mitte des Glaskastens hing, wie mit unsichtbaren Stricken festgezurrt, eine Seele. Sie zuckte, als würde sie von
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