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Katharsia (German Edition)

Katharsia (German Edition)

Titel: Katharsia (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Magister
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Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr rufen Wachen und Kontrolleure ihre Anweisungen in einen leeren Raum hinein. Ihr Verstand sagt ihnen, dass da irgendjemand ist, der sie versteht, aber ihr Gefühl, ihre tägliche Erfahrung widerspricht dem. Genau genommen, ist es zum Verrücktwerden. Kein Wunder, dass sie in ihrer Verzweiflung manchmal über die Stränge schlagen.“
    „Über die Stränge schlagen?“
    „Na ja, wenn eine Seele aus der Zelle flieht, wird sie natürlich wieder eingefangen. Und bevor man sie zurückbringt, bekommt sie zur Strafe eine so genannte ,Sonderbehandlung‘. Dazu wird die Seele in einem bestimmten Apparat einer Strahlung ausgesetzt, von der man annimmt, dass sie ihr Schmerzen bereitet.“
    „Aber man weiß es nicht genau?“
    „Du sagst es, Sando. Dennoch spricht einiges dafür. Die Energie der Seele ist während der Behandlung extremen Schwankungen unterworfen – und das deutet auf Schmerz hin.“
    „Aber das ist doch Folter!“
    „So würde ich das nicht nennen … Wir kennen nun mal kein anderes Mittel der Disziplinierung dieser unsichtbaren Gegner. Die Wachleute warnen sie jedes Mal, wenn sie die Zelle betreten. Die Seelen wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie versuchen, auszubrechen. Viele tun es trotzdem.“
    „Was geschieht denn mit der Seele während der Sonderbehandlung?“
    „Nichts Spektakuläres. Die Seele erscheint normalerweise als heller Leuchtfleck auf unseren Apparaten. Während der Strafe blinkt er heftig – und wird es übertrieben, leuchtet der Fleck nur noch trübe. Das sehe ich als Spezialist. Ein Wachmann hat gar kein Gefühl dafür.“
    „Na, prima!“, sagte Sando bitter. „Sie sehen nicht, was sie anrichten, dürfen aber die Folterapparate bedienen!“
    „Leider ja. Ich bekomme nur die schlimmsten Fälle zur Behandlung. Mehr ist gar nicht zu schaffen. Ich bin der einzige Seelenarzt im Hades.“
    Der Gegenverkehr kam in Sicht. Ein Fahrzeug, besetzt mit vier Männern in Schutzanzügen, fuhr an ihnen vorüber. Doktor Fasin hob die Hand zum Gruß. Träge winkten die Wachleute zurück. Sie wirkten erschöpft. Ihre Anzüge und Helme waren über und über beschmiert mit weißen Spuren. Sando schaute ihnen entgeistert nach, während das Fahrzeug, in dem er saß, unsanft anruckte und die Fahrt zum Abschnitt eins/sechs fortsetzte. Als sie sich ihrem Ziel näherten, hörten sie die Alarmsirene gellen. Schon von Weitem sah Sando vermummte Männer, die ziellos mit Sauggeräten durch die Luft wedelten und verzweifelt gegen einen unsichtbaren Gegner ankämpften. Sie standen auf den Wegen neben der Gleisbahn und bemerkten nicht, dass sie knietief in einer weißen Masse wateten.
    Sando wurde es flau im Magen. Es handelte sich nicht um den undifferenzierten, weißlichen Seelenmatsch, der überall breitgetreten war, sondern um erkennbare Körperteile von Seelen: Köpfe, Rümpfe, Arme, die dort heillos durcheinander lagen und in denen die Wachmänner blind herumtappten.
    Einige Sekunden lang kämpfte Sando gegen den aufkommenden Brechreiz. Vergeblich. Sein Mageninhalt schoss in den Helm. Widerlich säuerlicher Gestank fuhr ihm in die Nase. Nahe am Ersticken riss er sich die Kugel vom Kopf.
    „Bist du wahnsinnig?!“, schrie Doktor Fasin, das Sirenengeheul übertönend, und bemerkte dann das Erbrochene. „Was ist los, verdammt?“
    Er sprang herbei, schüttete eilig die stinkende Pampe aus und wollte Sando die besudelte Kugel wieder überstülpen. Doch der Junge wehrte sich.
    „Ich brauche sie nicht“, stöhnte er verzweifelt, „ich sehe doch, was los ist.“
    Sein Magen regte sich noch immer. Doktor Fasin ließ den Helm fallen.
    „Was siehst du?“, rief er.
    Sando kämpfte mit sich, doch Doktor Fasin ließ nicht locker.
    „Nun sag schon! Was siehst du, Junge?“
    Sando überwand sich und brüllte es ihm ins Ohr, woraufhin der Doktor den Wachleuten die Anweisung gab, mit den Inhalatoren nicht in der Luft herumzufuchteln, sondern den Boden abzusaugen.
    „Wo kommen die Seelen her, um Gottes willen?“, wendete er sich dann an Sando.
    Wie zur Antwort auf seine Frage fiel in diesem Moment ein bewegungsunfähiges Exemplar von der Decke herab. Es klatschte einem der Wachmänner auf den Helm und rutschte langsam, gleich einem gallertartigen Brei, an dem Wärter herunter. Erschrocken sprang Sando zurück und sah nach oben zu den Gitterrosten der anderen Etagen.
    „Sie kommen aus irgendeinem Stockwerk über uns!“, rief er.
    „Wir müssen zur Treppe!“, schrie

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