Katharsia (German Edition)
antwortete dankbar: „Im rechten Seitenflügel des Schlosses. Um diese Zeit kümmert er sich um die Seelen, die dort wohnen und auf Retamin hoffen.“
„Bin schon unterwegs!“, rief Sando und lief in den Umkleideraum. Dort entledigte er sich rasch seiner nassen Badehose, zog sich die frischen Sachen an, die ihm ein guter Geist, sicher Djamila, zurechtgelegt hatte, und begab sich auf die Suche nach Doktor Fasin. Als er durch das Eingangsportal des Hauptgebäudes nach draußen trat, war er angerührt von der friedlichen Abendstimmung, die über der Oase lag. Einsam reckte ein Ziehbrunnen auf der Wiese vor dem Schloss sein rustikales Hebewerk empor. Die Bäume an der schnurgeraden Allee, die jenseits der Rasenfläche begann, erhaschten mit ihren Wipfeln noch die letzten Sonnenstrahlen. Das ergab einen purpurfarbenen Lichtstreif, der sich weit hinzog, vorbei an der blinkenden Fläche eines kleinen Sees, aus dessen Mitte glitzernde Fontänen in den Abendhimmel schossen, bis hin zu jenem Tor, vor dem Sando einst mit Stadlmeyrs Riesenechse angekommen war.
Sando sog für einen kurzen Moment diesen Frieden in sich auf, bevor er die Treppe abwärts nahm und auf den rechten Schlossflügel zusteuerte.
Der Eingang erwies sich als Schleuse. Wie nicht anders zu erwarten, war das Seelenheim mit Kokon abgesichert. Als er die Schleuse verließ und den langen Korridor des Gebäudes betrat, stieß er auf Kazim, der mit einem röhrenden Staubsauger über den Boden fuhr. Als er Sandos ansichtig wurde, schaltete er das Gerät aus und stützte sich auf das Saugrohr.
„Guten Tag, Sando. Schön, dich zu sehen!“, sagte er freundlich. „Ich hatte noch gar nicht die Gelegenheit, dich zu begrüßen.“ Er verbeugte sich ein wenig förmlich. „Also, herzlich willkommen!“
„Danke, Kazim.“ Sando zeigte lächelnd auf den Staubsauger. „Ich dachte schon, Sie wollen Seelen einfangen.“
Kazim lachte. „Nicht doch! Seelen am Boden? Ich bitte dich, wo gibt es denn so etwas?!“
Im Hades , dachte Sando, doch er sagte es nicht laut.
„Unsere Seelen sollen sich wohlfühlen bei uns“, sagte Kazim. „Auch wenn wir sie nicht sehen, so sehen sie doch uns – und natürlich auch den Schmutz.“
„Können Sie mir sagen, wo ich den Doktor finde?“
„Eine Treppe höher. Er behandelt gerade einen Fall von Schwermut. Ja, es ist nicht leicht für sie, so gefangen zu sein.“
„Sind denn die Seelen nicht freiwillig hier?“
„Freiwillig unfreiwillig“, sagte Kazim unbestimmt.
Sando war anzusehen, dass er mit der Antwort nichts anzufangen wusste.
„Also, im Grundsatz sind sie natürlich frei“, erklärte Kazim. „Dennoch sind sie verpflichtet, sich in kontrollierten Zonen – wie zum Beispiel in solchen Heimen – aufzuhalten, weil freie Seelen auch zur Gefahr werden können. Der Doktor gibt sich alle Mühe, ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.“ Er wies auf die Ölgemälde an den Wänden, farbenfrohe Landschaftsdarstellungen, die dem Schlossgang einen freundlichen Charakter verliehen. „Die Zimmer sind aufwendig ausgestattet und haben verschiedene Funktionen.“ Er öffnete eine Tür. „Dies ist zum Beispiel ein Mitleseraum.“
Sando wollte schon fragen, was darunter zu verstehen sei, doch als er hineinsah, verstand er es auch ohne Erklärung. In der Mitte des orientalisch eingerichteten Raumes stand eine Ottomane. Darauf lag eine Frau, die still in einem Buch las. Nichts Außergewöhnliches, wenn man nicht wie Sando sehen konnte, dass über ihr einige Seelen schwebten, die eifrig mitlasen.
„Sie können die Bücher ja nicht selbst in die Hand nehmen, geschweige denn umblättern. Wir geben ihnen die Hilfe dazu.“
Kazim schloss die Tür wieder.
„Auch die nächsten Zimmer dienen dem Mitlesen. So können die Seelen unter verschiedenen Büchern auswählen. Natürlich gibt es auch Räume, in denen laut vorgelesen wird. Weiterhin bieten wir Fernseh- und Kinoräume mit unterschiedlichen Programmen, Zimmer für Gespräche und Geselligkeit und natürlich auch Ruheräume.“
Sando schreckte zurück. Unmittelbar vor ihm waren zwei Seelen aus der Wand herausgewitscht. Sie schienen es eilig zu haben. Als die eine von ihnen Sando entdeckte, hielt sie die andere zurück. „Sieh mal, ein neues Gesicht!“, zirpte sie unverhohlen, nicht damit rechnend, dass Sando sie hören konnte.
Die andere schenkte ihm nur einen flüchtigen Blick.
„Komm schon, der Film fängt gleich an!“, drängte sie.
Daraufhin
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