Katharsia (German Edition)
einem Seitenblick auf Sando, der eben heißhungrig in einen Apfel biss, erwiderte der Alte wehmütig: „Kann ja sein, aber meine Zähne sind nicht mehr die besten, Denise. Und was ist mit dir? Komm, greif zu!“ Er schob ihr die dritte Frucht zu.
Denise betrachtete sie nicht gerade begeistert, rutschte unruhig in ihrem Sessel herum und fragte unvermittelt: „Ben, hast du nicht was Winziges zum Knabbern im Haus?“
Ben Hakim musste lachen: „Immer noch ganz die Alte!“
„Ich hole es mir auch selbst“, bettelte Denise. „Ich habe mir gemerkt, wo das Zeug immer liegt.“
Hakim hob zustimmend die Hand, wenn auch mit einem leichten Kopfschütteln, und Denise sauste los. Im Handumdrehen war sie wieder da und legte eine große Tüte Kartoffelchips auf den Tisch.
In das Knirschen der zwischen ihren Zähnen zerbröselnden Scheiben hinein fragte der alte Hakim fröhlich grinsend: „Und? Kannst du inzwischen fliegen?“
„Oh, Ben, du bist gemein! Immer auf die Kleinen!“, quietschte Denise mit gespielter Entrüstung. „Was kann ich denn dafür, dass Barockengel nicht fliegen können?! Es ist ein Konstruktionsfehler.“
„Ach was“, widersprach Ben Hakim vergnügt und biss in eine geschälte Apfelhälfte. „Hummeln können auch fliegen, obwohl sie eigentlich zu schwer dafür sind. Und von wegen Barockengel … Liebe Denise, wie barock man aussieht, das bestimmt doch jeder selbst, oder?“
„Wenn du so weitermachst, setzt du unsere siebzigjährige Freundschaft aufs Spiel“, konterte Denise.
Beide lachten.
Sando hatte den Eindruck, es war nicht das erste Mal, dass sie so über dieses Thema sprachen. Es war ein Spiel, das keiner dem anderen übel nahm.
„Wie geht es deinem Vater?“, fragte der Alte schließlich.
„Ihm geht es gut, so behauptet er zumindest am Telefon. Ich war schon fast ein Jahr nicht mehr bei ihm in Paris.“
„Hast du so viel um die Ohren?“
„Bis heute, ja …“, sagte Denise. „Aber wer weiß, was nun kommt.“
Auf einen fragenden Blick des Alten hin sprudelte es aus ihr heraus: „Es ist alles so schrecklich, Ben! Ich weiß nicht mehr weiter! Wir müssen uns verstecken, also, wir werden verfolgt! Nein, eigentlich sind wir tot, aber das weiß keiner …“
Denise war völlig durcheinander.
Ben nahm ihre Hand und streichelte sie beruhigend. „Immer langsam, Denise! Versuch es einfach der Reihe nach.“
Der aufgeregte Engel sammelte sich einen Moment und begann dann, zu erzählen: „Also, gestern war ich wie üblich in meinem Büro und hatte wenig zu tun. In meinem Computer waren keine Neuankömmlinge gemeldet, um die ich mich hätte kümmern müssen. Solche Tage gab es in letzter Zeit auffällig oft …“ Denise stockte und fuhr etwas kleinlaut fort: „Vielleicht hätte mich das stutzig machen sollen, aber wer beschwert sich schon, wenn es mal weniger Arbeit gibt?“
Sie atmete tief durch und redete etwas forscher weiter: „Jedenfalls bekam ich plötzlich einen Anruf von einem Engel der Gefahrenabwehr. Er war mit seiner Einheit draußen auf der Suche nach dem verschwundenen Professor Strondheim.“
„Ja, eine böse Sache“, warf Ben Hakim ein. „Ich kannte den Professor. Ein guter Mann – und er war wohl kurz vor dem Durchbruch in der Retaminforschung.“
Denise nickte und nahm den Faden wieder auf: „Dieser Engel also hatte einen Mann aufgegriffen, der einen Jungen ohne Pass bei sich hatte. Der Mann behauptete, der Junge sei ein Neuankömmling, den er halb verdurstet in der Wüste gefunden habe. Sein Name sei Sando Wendelin.“
Denise sah zu Sando hinüber.
„Ich wollte schon sagen: ,Nein, bei mir ist niemand gemeldet‘, da fiel mein Blick auf die Liste im Computer – und dort stand tatsächlich dieser Name: Sando Wendelin. Ich war total erschrocken und dachte, ich hätte etwas übersehen. Natürlich habe ich dem Engel den Neuankömmling bestätigt. Er wirkte etwas ungehalten, wahrscheinlich über meine Schlamperei, dass ich den Jungen nicht in Empfang genommen hatte.“
Denises Augen wurden feucht. Sie fingerte sich das Taschentuch aus dem Brusttäschchen, stellte fest, dass es schon nicht mehr benutzbar war, und sah sich Hilfe suchend um. Der alte Hakim wühlte in seinem Kaftan und reichte ihr ein sauberes Tuch. Denise nahm es dankbar an und trocknete sich die Tränen. „Heute Morgen kam Sando dann zu mir. Ein gewisser Doktor Fasin hatte ihn über Nacht aufgenommen und mit diesen edlen Sachen beschenkt. Sie sehen jetzt freilich etwas ramponiert
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