Katharsia (German Edition)
aus.“
Sie nestelte an Sandos Kaftan herum und versuchte, eine besonders schmutzige Stelle auszuklopfen. Derweil rückte sich Sando verlegen den grünen Turban zurecht und sagte: „Ja, Doktor Fasin war sehr gut zu mir.“
Ben Hakim nickte. „Er gilt als ausgezeichneter Seelenspezialist. Er betreut die Seelen, die wir in Katharsia neu zulassen, denen wir aber wegen des Mangels leider noch kein Retamin zur Verfügung stellen können.“
„Das gibt es auch?“, fragte Sando verwundert. „Da habe ich ja Glück gehabt.“
„Als Glück würde ich das nicht bezeichnen. Es gibt klare Regeln für eine Retaminzuweisung. Junge Menschen wie du bekommen es sofort. So weit reicht es gerade noch. Seelen älterer Menschen müssen sich gedulden.“
Der Alte wandte sich wieder Denise zu: „Verzeih, Denise, ich habe dich unterbrochen in deiner Erzählung.“
Denise seufzte. Sie war begierig darauf, ihre Geschichte loszuwerden, und hatte mit zappelnden Flügeln darauf gewartet, endlich wieder zum Zuge zu kommen.
„Sando war also in meinem Büro“, fuhr sie fort, „und erzählte mir, dass auch seine Freundin in Katharsia angekommen sein musste. Sie heißt Maria Kromberg und ist …“
„Ich erinnere mich“, fiel ihr Ben Hakim ins Wort. „Sie ist mit dem Jungen einer Geiselnahme zum Opfer gefallen. Wir haben gestern in der Kommission ihrer Aufnahme in Katharsia zugestimmt und das Retamin freigegeben.“
Denises Flügelchen sirrten erregt. „Da haben wir es!“, rief sie. „Irgendwer unterschlägt die Neuankömmlinge!“
„Immer der Reihe nach!“, beschwichtigte sie Ben Hakim. „Was ist denn nun passiert?“
„Maria Kromberg ist verschwunden – und wer weiß, wie viele Seelen noch! Irgendjemand scheint scharf auf das Retamin zu sein!“
Denise erzählte und der Alte hörte schweigend zu, strich sich ein ums andere Mal mit dem Mittelfinger über die rechte Augenbraue, wobei die Hand mit jedem Mal stärker zitterte. Nur ein Mal stellte er eine Zwischenfrage: „Dieser Nebel im Helikopter – die Piloten waren überrascht?“
„Ja, sie konnten sich nicht erklären, wo er herkam.“
„Merkwürdig! Wieso wussten sie nicht, dass sie Retamin an Bord hatten?“
Sie fanden darauf keine Antwort.
„Tja“, resümierte Denise, als sie die Geschichte beendet hatte, „nun sitzen wir hier als Namenlose ohne Pass, die für die Welt da draußen nicht mehr existieren, und wissen nicht wohin.“
Denise und Sando saßen da wie erschlagen.
„Natürlich bleibt ihr erst einmal bei mir“, sagte Ben Hakim. „Solange niemand weiß, dass ihr noch lebt, kann euch nichts geschehen.“
Denise umarmte den Alten dankbar.
Vom Hausflur her hörten sie das Klappern eines Schlüssels. Eine Tür fiel ins Schloss.
„Das ist Sina, meine Perle“, sagte Ben Hakim. „Gleich gibt es etwas Frisches vom Markt.“
Im Hof erschien eine Frau, eine solide Mittvierzigerin, die mit ihren kräftigen Armen einen prall gefüllten Korb auf ihrer breiten Hüfte balancierte, auf den ersten Blick eine Respekt einflößende Person, die mit straffer Hand über das Hauswesen regieren mochte, und der man ansah, dass sie das, was sie in der Küche zauberte, auch selbst gern aß. In ihrem rundlichen Gesicht saß eine ziemlich knorrige Nase, doch die dunklen, wieselflinken Augen, die den Gästen am Tisch neugierig entgegensahen, milderten diesen Ehrfurcht gebietenden Eindruck. Ohne Umschweife kam sie zum Tisch, begrüßte Denise und Sando mit einem freundlichen Kopfnicken und plapperte von den Neuigkeiten auf dem Markt. So erfuhren sie, dass das Gerücht von einer Katastrophe in der Wüste kursierte. Eine Riesenechse sollte einen vollbesetzten Helikopter zermalmt haben. Man sagte, es gäbe keine Überlebenden.
„Das ist doch gut für uns“, meinte Sando, während Sina in der Küche verschwand.
„Ja“, bestätigte Ben Hakim. „Vorerst wird man nicht nach euch suchen – es sei denn, die Behörden sind anderer Meinung als die Leute auf dem Markt.“
Kurz darauf war aus dem Haus das Läuten eines Glöckchens zu hören. Sina rief zum Essen.
„Macht euch ein wenig frisch“, sagte der Alte, während er sich erhob. „Denise, du weißt ja, wo das Bad ist. Und beeilt euch! Köchinnen mögen es nicht, wenn die Gäste zu spät kommen.“
NACHFORSCHUNGEN
An diesem Abend sprachen sie nicht weiter über ihr Schicksal. Nachdem sie gemeinsam gegessen hatten, zogen sie sich zur Nachtruhe zurück. Die beiden Gäste hatten je ein kleines Zimmerchen im
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