Katharsia (German Edition)
wollte er erkunden, ob Sando ihn sehen konnte. Dann schwebte er langsam auf ihn zu und streifte sein Gesicht wie ein Hauch. Augenblicklich krampfte sich Sandos Magen zusammen, das Gefühl von Achterbahn war wieder da. Er stürzte in den Abgrund, wollte schreien. Dann war es plötzlich vorbei. Die Seele des Jungen war durch seinen Kopf gegeistert und bewegte sich nun in Richtung Fenster.
„He, was soll das? Wer bist du?“, rief Sando ihr nach.
Die Seele stoppte und drehte sich erstaunt um. „Du kannst mich sehen?“ Es war die gleiche Wisperstimme, die Sando eben gehört hatte.
„Wenn ich genau hinschaue …“
„Und du kannst mich hören?“
„Könnte ich dir sonst antworten?“
„Es ist unglaublich!“ In den Augen der Jungenseele stand maßloses Erstaunen.
„Was ist daran unglaublich?“
„Du bist ein Auvisor!“
„Ein was?“
„Ein Mensch, der Seelen sehen und hören kann. Eine seltene Gabe. Es ist Jahrzehnte her, dass in Katharsia ein Auvisor lebte.“
Jetzt war es Sando, der um Fassung rang. Er sollte eine so seltene Fähigkeit besitzen?
„Aber dafür haben wir jetzt keine Zeit“, drängte der durchsichtige Bursche plötzlich. „Du musst mit Denise sofort verschwinden, sie werden bald hier sein.“
„Ich verstehe nicht.“
„Dieser Albtraum, Sando … Es ist tatsächlich geschehen. Du hast es miterlebt, weil ich durch deinen Kopf geschwebt bin. Anders wusste ich mir nicht zu helfen. Ich wollte euch warnen. Zuerst war ich bei Denise, aber auch sie hat meinen Hinweis für einen bloßen Albtraum gehalten. Es ist ein Glück, dass ich mit dir sprechen kann.“
„Sie haben dich hinuntergeworfen? Aber du bist doch gar nicht
Ben Hakim.“
„Doch, ich bin es. Der Junge. So, wie ich vor neunhundert Jahren nach Katharsia gekommen bin.“
Sando saß da wie erschlagen. Doch Ben ließ ihm keine Zeit zu grübeln. „Pass auf, hör jetzt gut zu! Es ist wichtig! Ihr müsst alle sofort aus dem Haus! Auch Sina! Lasst alles stehen und liegen, nehmt nur die Pässe und Flugtickets mit und mischt euch unter die Menschen auf dem Basar! Über das Wohin könnt ihr dort nachdenken.“
„Kommst du nicht mit, Ben?“
„Ich komme nach, ich muss noch jemanden warnen. Nun mach schon, Sando! Wir treffen uns an der Stele auf dem Basar.“ Und schon entschwebte er durch die Außenwand des Hauses.
Noch ganz benommen taumelte Sando die Treppe hinab. Wie sollte er den Frauen beibringen, dass sie sofort fliehen mussten?
In der Küche fand er Sina. Wortlos schnappte er sie und zog sie hinaus auf den Hof. In seinem Gesicht musste sie etwas gesehen haben, das sie veranlasste, ihm widerspruchslos zu folgen. Denise saß mit geschlossenen Augen in einem der Korbsessel, den Kopf im Nacken, das Buch aufgeschlagen auf ihrem Schoß. Doch sie schlief nicht. Auf ihren Wangen glühten rote Hektikflecken, ihr Atem ging schnell. Es machte den Anschein, als versuche sie krampfhaft, sich zu beruhigen. Sando wusste, was mit ihr los war.
„Dein Albtraum, Denise … Sie haben Ben wirklich …“
Denise schreckte auf. „Wovon redest du da? Woher willst du wissen, was ich geträumt habe?“
„Es war kein Traum, Denise. Ben wollte uns warnen. Er war tatsächlich bei diesem General.“
Denise sah Sando mit geweiteten Augen an.
„Was willst du damit sagen? Doch nicht etwa, dass Ben von diesem Balkon …?“
Sando nickte nur.
Denise bellte ein trockenes Lachen. Dann verstummte sie jäh, schnappte sich demonstrativ ihr Buch. Einige Sekunden verstrichen, bevor sie wie eine nachsichtige Mutter zu ihrem fehlgeleiteten Kinde sagte: „Aber Sando, da hat dir deine Fantasie einen Streich gespielt. Du wirst sehen, Ben wird bald nach Hause kommen.“
Die Unsicherheit in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Nein, er wird nicht kommen!“ Sando schluckte. „Wir müssen hier sofort verschwinden! Seine Mörder werden bald hier sein!“
Denise rang nach Luft. „Das reimst du dir doch alles bloß zusammen! Du willst mir nur Angst machen! Mit solchen Dingen scherzt man nicht!“
Die letzten Worte hatte Denise geschrien, um ihre furchtbare Ahnung niederzukämpfen, dass Sando Recht haben könnte.
Sina presste zischend den Finger an den Mund.
Der kleine Engel flüsterte: „Was ist denn nun mit Ben? Ich verstehe gar nichts.“
Sando, der zunehmend nervös wurde und von einem Bein auf das andere trat, weil ihm alles viel zu lange dauerte, sagte nur knapp: „Ich bin ein Auvisor. Ich denke, du weißt, was das ist. Bens Seele war
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