Katharsia (German Edition)
waren, mit denen er jetzt die Umwelt wahrnahm.
Aber das ging nur wenige Sekunden gut. Eine Schwindelattacke erfasste ihn. Sehen trotz geschlossener Augen – das brachte sein Hirn durcheinander. Die Welt um ihn herum drehte sich und mit ihr der heranrauschende Engel. Schemenhaft erkannte Sando die bedrohlich anwachsende Mündung der Waffe und zum Schwindel kam eine lähmende Furcht.
War es Bens Seele, deren Panik jetzt auch ihn erfasste? Waren die Gefühle, die ihn peinigten, überhaupt die seinen? Sando war völlig verwirrt.
Flieh , schrie es in ihm, doch die Füße versagten ihm den Dienst. Er sackte zusammen.
„Sando, um Himmels willen, was ist mit dir?“
War es Denise, die dies gerufen hatte?
Vor seinen Augen tanzten Myriaden greller Lichtpunkte, die zu fluoreszierenden Farbschleiern verschwammen. Rote Nebelfetzen wurden gejagt von grünen und blauen. In atemberaubendem Tempo wechselten die Farben – und dann war es, als öffne sich ein Vorhang. Er war Ben Hakim, der Dreizehnjährige anno 1099!
DIE KREUZFAHRER
Er hastet eine steile Treppe hinauf, atemlos, seinen Freunden Achmed und Gregor nach. Sie sind ihm einige Stufen voraus. In seinen Augen brennt der Staub, den die Vorauseilenden mit ihren flinken Füßen aufwirbeln. Tränen. Für einen kurzen Lidschlag nur hält er inne. Dann rennt er weiter. Von seinen Freunden ist nichts mehr zu sehen.
Schweißtriefend erreicht er die Krone der Stadtmauer.
„Aus dem Weg!“, herrscht ihn ein bärtiger Riese an.
Erschrocken springt er zurück. Beinahe wäre er von dem Pechfass, das der Mann vor sich herschiebt, überrollt worden. Ihm folgen weitere Männer mit Fässern. Andere schleppen Brennholz heran. Heißes Pech für die Kreuzfahrer , denkt Ben.
Lautstarke Kommandos und angestrengtes Keuchen dringen an sein Ohr: Ein paar Meter weiter bringt eine Traube schweißglänzender Leiber eine schwere Steinschleuder in Stellung.
Wo sind Achmed und Gregor? Eine Gruppe von Lanzenträgern stapft heran und versperrt ihm die Sicht. Ihr Anführer, ein Offizier in golden schimmerndem Kettenpanzer, schiebt ihn unsanft beiseite. Erst als der Trupp vorbei ist, entdeckt er seine Gefährten auf der anderen Seite des Wehrganges an der Brüstung der Stadtmauer.
Geschickt schlängelt er sich durch das hektische Gewühl der Verteidigungsvorbereitungen. Als er die beiden erreicht, nehmen sie ihn in ihre Mitte, für Außenstehende ein Bild der Vertrautheit und der Eintracht. Gemeinsam lassen sie ihre Blicke schweifen über das schmale Hinnomtal, das sich tief unterhalb der Stadtmauer entlangzieht. Es bietet ein trostloses Bild. Alle Bäume, die dort standen, Zypressen und Pinien, sind abgeholzt worden. Auch das ansteigende Gelände jenseits des Tales ist mit frischen Baumstümpfen übersät. Die Kreuzfahrer sollen kein Baumaterial für Belagerungstürme finden, mit denen sie die Mauern erklimmen könnten. Die Junisonne steht hoch über der verwüsteten Landschaft und brennt auf den Gesichtern der Jungen. Achmed, schon fünfzehn und von kräftiger Statur, hebt seine Hand schützend vor die Augen. Aufmerksam sucht er den Horizont ab. Dann streckt er den Arm aus und weist auf eine Staubwolke in der Ferne. „Dort kommen sie!“
Er hat bereits die tiefe Stimme eines Halbwüchsigen.
Bens Kehle ist auf einmal sehr trocken. „Es müssen sehr viele sein“, sagt er leise. Ihn beschleicht ein mulmiges Gefühl angesichts des heranrückenden Kreuzfahrerheeres.
„Unsere Mauern sind stark, es wird ihnen nicht gelingen“, versucht Gregor, der Schmächtigste der drei, seine Gefährten zu beruhigen.
„Unsere Mauern? Sagtest du: unsere Mauern?“ Achmeds Stimme klingt gereizt. Er blickt hinaus zur bedrohlich anwachsenden Staubwolke und sagt: „Es sind deine Leute, Gregor!“
„Wie meinst du das?“ Die Frage kommt kläglich.
„Sie tragen das Kreuz wie du.“
Gregor schweigt betroffen.
Ben fühlt Unbehagen in sich aufsteigen. Sein Freund Achmed, Muslim wie er, hat angesichts der heraufziehenden Gefahr den Gedanken ausgesprochen, der sich auch ihm in den letzten Wochen aufgedrängt hat. Dass Gregor Christ ist, hat bisher zwischen ihnen keine Rolle gespielt. Seit er, Ben, denken kann, spielen sie miteinander, stromern durch die Gassen Jerusalems. Auch unter den Eltern hat es nie Streit gegeben. Bis heute leben sie in freundlicher Nachbarschaft. Hat diese Wolke am Horizont die Macht, das alles zu ändern?
„Das haben wir den Seldschuken zu verdanken“, sagt Ben. „Sie haben die
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