Katharsia (German Edition)
Achmed folgen ihm mit bangen Herzen. Mühsam schlagen sie sich durch die Menge der Gaffer.
„He, Gregor, bestimmt sind sie zu Hause. Sie können doch nicht jeden …“
Doch Gregor antwortet nicht. Verbissen kämpft er sich voran wie von einer bösen Vorahnung getrieben.
Ben entdeckt sie zuerst. Gregors Vater, ein kleiner und drahtiger Mann, geht trotz der Last, die er auf den Schultern trägt, aufrecht und würdigt seine Umgebung keines Blickes. Er macht den Eindruck, als weigere er sich, das grausame Geschehen um ihn herum zur Kenntnis zu nehmen. Die Mutter das ganze Gegenteil. Ihre rot geweinten Augen huschen von einem Straßenrand zum anderen.
Sie sucht Gregor , denkt Ben.
Jetzt hat auch Gregor seine Eltern entdeckt. Ben sieht, wie er zusammenzuckt.
„Mam…“, will er rufen, doch der Schrei erstickt. Achmed hat ihm geistesgegenwärtig den Mund zugehalten.
„Sei still, Gregor – oder willst du mit vor die Stadtmauer?“, zischt er.
Ben sieht den Älteren dankbar an.
Gregor wehrt sich verzweifelt gegen den festen Griff, doch Achmed lässt nicht locker. „Versprich, dass du sie nicht rufst!“
Gregors Widerstand erlischt. Seine Mutter hat ihn entdeckt. Ihre Blicke treffen sich und lassen sich nicht mehr los. Gregor streckt seine Hände in ihre Richtung aus, sie schüttelt verzweifelt den Kopf. Bleib bei deinen Freunden , sagt ihr Blick, bei ihnen bist du in Sicherheit.
Gregor schluchzt. Achmed und Ben nehmen ihn, der nur noch Augen für seine Mutter hat, in ihre Mitte. Gemeinsam drängen sie sich durch die Menschenmenge, bestrebt, Gregors Eltern im Blick zu behalten, sie wenigstens bis zum Jaffa-Tor zu begleiten.
„Moment mal, ihr drei!“
Vor ihnen steht plötzlich ein dicker Mann, der wie die meisten Muslime mit weißem Kaftan und Turban bekleidet ist. Und ehe es sich die Freunde versehen, hat er Gregor am Wickel.
„Dich kenne ich doch! Du willst doch nicht etwa deine Eltern allein ziehen lassen?!“
Und dann geht alles sehr schnell.
„He, Wache! Sorgen Sie dafür, dass dieser Junge zu seinen Eltern kommt! Sie sind dort im Zug!“
Der Dicke zerrt Gregor hin zu dem Bewaffneten, der den Jungen ohne viel Federlesens mit einem Stoß seiner Lanze auf die Straße in die Kolonne der Ausgestoßenen befördert. Ben und Achmed sehen, wie Gregor Mutter und Vater umarmt. Nun stehen auch dem stolzen Mann die Tränen in den Augen.
Achmed fasst Ben bei der Hand, drückt sie, bis sie schmerzt. Der Strom der Vertriebenen reißt Gregor mit sich fort. Er schaut sich noch einmal um, sucht mit weit aufgerissenen schwarzen Augen seine Freunde in der Menge. Dann verschluckt ihn der dunkle Schlund des Jaffa-Tores.
„Sando, was ist mit dir?“
Eine Frauenstimme wie aus der Ferne. Schwindelgefühl. Irgendjemand rüttelte ihn an der Schulter.
„Sando, wach doch auf!“
Woher kannte er diese Stimme? Irgendwann hatte er sie schon einmal gehört. Was wollte sie von ihm?
„Was ist mit Gregor?“, hörte er sich fragen.
„Gregor? Ich kenne keinen Gregor. Sando, wovon redest du?“
Wieso Sando? Hieß er nicht Ben? Und warum kannte sie seinen Freund nicht? Wo war er überhaupt?
Sando öffnete seine schweren Lider. Schemenhaft nahm er Köpfe wahr, die sich über ihn beugten und den Himmel verdeckten. Nur einen kleinen Ausschnitt ließen sie frei, einen hellen Lichtfleck. „Was ist mit Gregor geschehen?“
Der Kopf, der ihm am nächsten war, rührte sich. „He, Sando, wovon sprichst du?! Wach auf! Ich bin es, Denise!“
Denise? Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Dennoch bohrte die Frage weiter. „Ich muss wissen, was mit Gregor passiert ist! Er musste hinaus zu den Kreuzfahrern.“
„Ich kann dir nicht helfen, Sando. Ich kenne keinen Gregor. Und wieso sprichst du auf einmal arabisch?“
Denises Stimme klang verzweifelt.
Komische Frage! Wieso sollte ich nicht arabisch sprechen?
„In Jerusalem sprechen sie alle arabisch. Auch Gregor, obwohl er Christ ist.“
„Hör auf zu fantasieren, Sando! Wach auf!“
Sando konzentrierte sich auf den Himmelsfetzen, der zwischen den Köpfen hindurchleuchtete, sie überstrahlte. Darin schien sich etwas zu bewegen, etwas, was ihn beunruhigte. Es kam näher und dann erkannte er es: Engel! Dort kreisten Engel!
Und erneut ergriff ihn eine Woge der Angst, von der er nicht wusste, ob es die seine war.
Ben , dachte er noch, dann sah er sich erneut umhüllt von fluoreszierenden Nebelschleiern. Leuchtende Farbfetzen umkreisten ihn, reizten seine Sinne.
Als der Nebel
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