Katharsia (German Edition)
Finger an den Mund. „Psst!“
Aus Richtung Tal sind Stimmen zu hören. Langsam kommen sie näher. Ein seltsamer Singsang. Ben schaut Achmed fragend an. Der zuckt mit den Schultern.
Im Gegenlicht des roten Himmels erscheinen plötzlich schwarze Schatten. Es müssen Hunderte sein. Die Gestalten marschieren singend an der Stadtmauer entlang, kommen auf Ben und Achmed zu. An der Spitze des Zuges trägt jemand ein großes Kreuz.
Die Freunde ducken sich hinter den Stein. Ben wagt einen Blick und traut seinen Augen kaum: Ausgemergelte Gestalten in Büßergewändern wandeln dort barfuß durch den heiß gebrannten Staub. Nein, wandeln ist nicht der richtige Ausdruck – sie schleppen sich wankend voran, schmutzig, klapperdürr und ausgezehrt. Die Augen liegen tief in ihren schwarzen Höhlen und ihr Singsang gleicht einem heiseren Röcheln.
„Was tun die da?“, flüstert Ben verständnislos.
„Der Hunger hat sie wahnsinnig gemacht“, raunt Achmed.
Von der Stadtmauer herunter ertönt höhnisches Gelächter. „Wollt ihr mit Gebeten unsere Mauern bezwingen?“ – „Singen könnt ihr besser als kämpfen!“ – „Gebt auf und geht nach Hause!“ Steine fliegen. Staubwölkchen aufwirbelnd schlagen sie dicht vor den Jammergestalten ein. Doch die zeigen keinerlei Reaktion. Wie in Trance ziehen sie ihres Weges, jeder Schritt eine unendliche Mühsal. Die Sonne ist längst untergegangen, als dieser Spuk vorüber ist.
„Ob Gregor noch lebt?“, fragt Ben unvermittelt.
Achmed ist erschrocken. „Bei Allah, warum sollte er nicht mehr leben?“
„Wenn schon die Krieger in einem solchen Zustand sind, wie mag es dann den anderen gehen … den unnützen Fressern?“
Sie schauen hinab ins Hinnomtal, über das sich nun die Nacht senkt. Das Zelt, wo sie Gregor vermuten, hat die Dunkelheit inzwischen verschluckt.
„Gehen wir!“, sagt Achmed.
Sie erheben sich und steigen hinab ins Tal, vorsichtig darauf bedacht, keine Geräusche zu verursachen. Bald haben sie die ersten Zelte erreicht. Das Lager scheint ausgestorben, es herrscht eine gespenstische Stille.
„Sicher pilgern sie alle um die Stadt herum und vergeuden ihre Kräfte“, flüstert Achmed verächtlich.
Aus der Ferne kommen Geräusche, die wie Hammerschläge klingen und im Tal widerhallen. Ben hält an und lauscht beunruhigt. „Sie bauen Belagerungsgeräte.“
Achmed winkt ab. „So, wie die aussahen, nützen ihnen auch die höchsten Türme nichts.“
Es nähern sich Schritte. Die Jungen huschen hinter ein Zelt, halten den Atem an. Ein kurzer, fragender Ruf in einer fremden Sprache. Dann entfernen sich die Schritte wieder.
„Die Zelte sind bewacht!“, haucht Achmed.
Vorsichtig schleichen sie weiter in die Richtung, in der sie ihren Freund zu finden hoffen. In normalen Zeiten hätten sie den Weg zu Gregors Garten im Schlaf gefunden, doch nichts ist hier mehr so, wie es einmal war. Kein Baum, kein Strauch, dafür Zelte und Berge aus Unrat. Stechender Geruch nach Fäkalien steigt von Rinnsalen auf, die ihren Weg queren und talwärts fließen. Hin und wieder stoßen sie auf einen verwaisten Pferdekarren.
„Hast du hier schon mal ein Pferd gesehen?“, fragt Ben leise.
„Die haben sie längst aufgefressen“, knurrt Achmed.
Unweit von ihnen flackerndes Licht. Ein Feuer! Sie schleichen darauf zu. Stimmengewirr, Gelächter, Geschrei, sogar das Spiel einer Hirtenflöte.
„Denen scheint es gut zu gehen“, raunt Achmed.
Als sie nah genug herangekommen sind, sehen sie über dem Feuer einen dampfenden Kupferkessel. Ein nacktbrüstiger Hüne hält einen langen Stab in den Fäusten und rührt mit ausladenden Bewegungen den kochenden Inhalt um. Rechts daneben, etwas im Schatten, weitere Gestalten, die laut miteinander sprechen. Sie stehen vor dem Eingang eines Zeltes und halten Näpfe in den Händen. Offenbar plagt sie der Hunger und sie warten schon ungeduldig auf die Fertigstellung des Mahles.
Achmed stößt Ben in die Seite. „Siehst du das Zelt?“
Es ist rot-gelb gestreift. Hier irgendwo muss Gregors Garten gelegen haben!
Sie sehen sich genauer um. Im Lichtkreis des Feuers stehen rechts das Zelt und die Männer mit den Näpfen. Links daneben erspähen die Freunde zwei Pyramiden aus Lanzen, zwischen denen ein Häufchen Kleinholz liegt.
„Groß ist ihr Holzvorrat aber nicht“, flüstert Ben.
Ganz links, gerade noch vom gespenstischen Licht des Feuers erfasst, steht ein Karren mit einer runden Plane. Dessen offene Rückseite ist dem Feuer zugewandt und
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