Katharsia (German Edition)
endlich aufriss, fand er sich wieder in einem niedrigen, dunklen Gang, der in gespenstisch flackerndes Licht getaucht war. Vor ihm lief jemand tief gebückt mit einer Fackel in der Hand. Es war Achmed.
„Hier muss es sein, Ben!“
Achmed bleibt stehen. Über ihnen dringt durch einen schmalen Spalt Tageslicht in das Dunkel. Ben erkennt eine Falltür. Achmed stemmt sich dagegen, doch sie gibt nicht nach. „Sie muss aufgehen, verdammt! Sie ist doch immer aufgegangen!“
Er probiert es erneut. Wieder nichts.
„Vielleicht liegt etwas Schweres darauf … Ein großer Stein vielleicht …“
„Das glaube ich nicht.“
Achmed hält die Fackel an die Decke und betrachtet die Falltür genauer. „Siehst du? Dort! Irgendjemand hat die Klappe mit einem Seil gesichert.“
Ein Blitzen im Fackellicht. Achmed hält den Seldschukendolch in der Faust. Er setzt ihn an und kappt das Seil mit einem kräftigen Ruck. Jetzt gibt die Falltür nach. Vorsichtig schiebt Achmed sie einen Spalt auf und lugt hinaus.
„Die Luft ist rein!“
Er klappt die Tür vollends auf. Hitze und glutrotes Licht der untergehenden Sonne fluten herein. Ben kneift die Augen zu einem Spalt zusammen, bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hat. Achmed kriecht aus dem Gang, den sie einmal bei ihren Streifzügen durch die Stadt zufällig entdeckt haben.
„Immer flach am Boden bleiben!“, raunt er Ben zu und gleitet hinüber zu einem Felsbrocken, der etwas Deckung bietet.
Ben folgt ihm. Hinter ihnen ragt riesig die Stadtmauer in den Himmel. Vor ihnen liegt das Hinnomtal. Es ist übersät mit unzähligen bunten Flecken: Zelte und Lagerstätten der Kreuzfahrer. Es müssen Tausende sein, die dort ausharren, darauf lauern, endlich in die Stadt eindringen zu können. Seit Wochen schon belagern sie Jerusalem.
Ben befällt ein Schauder. Er sieht das feindliche Lager zum ersten Mal. Seit die Freunde am Horizont die Staubwolke des nahenden Kreuzfahrerheeres erspäht haben, sind sie nicht mehr auf der Stadtmauer gewesen. Natürlich hätten sie gern einen Blick auf die Belagerer geworfen, doch jeden ihrer Versuche, die Wehranlagen zu erklimmen, haben die Wachen vereitelt.
Achmed hebt den Arm und zeigt auf einen Punkt auf ihrer Seite des Tales, wo ein auffällig rot-gelb gestreiftes Kreuzfahrerzelt steht. An der Spitze flattert ein gelbes Banner mit einem Wappen, dessen Einzelheiten aus der Entfernung nicht auszumachen sind.
„Siehst du dieses Zelt, Ben? Wo es steht, muss der Garten von Gregor gelegen haben. Vielleicht finden wir ihn dort …“
Ben war schon oft in diesem Garten, einem kleinen Olivenhain, den Gregors Eltern bewirtschaftet haben, bis er wegen der Kreuzfahrer abgeholzt wurde. Es ist nicht weit dorthin, dennoch beschleicht ihn ein mulmiges Gefühl.
„Wie sollen wir ungesehen durch das Lager kommen?“
„Wir müssen es versuchen!“, sagt Achmed entschlossen.
Ben nickt stumm, doch in ihm nagt der Zweifel. Ihr Plan, Gregor durch den Geheimgang in die schützenden Mauern der Stadt zurückzuholen, erscheint ihm jetzt, angesichts des feindlichen Heerlagers, sehr gewagt.
Achmed lehnt sich mit dem Rücken gegen den Felsbrocken und schließt die Augen. „Wir warten die Dunkelheit ab, es dauert nicht mehr lange.“
Beklommen sieht Ben, dass die niedergehende Sonne schon fast hinter der Hügelkette jenseits des Tales verschwunden ist. Ihr leuchtender Torso wölbt sich rot über dem Horizont wie die kupferne Kuppel einer gigantischen Moschee. Die mächtigen Mauern Jerusalems scheinen in diesem Licht zu erglühen. Trotz seines flauen Gefühls im Magen beobachtet Ben dieses Naturschauspiel mit Bewunderung: Der Tag bäumt sich noch einmal auf, zeigt all seine Schönheit, bevor er der hereinbrechenden Nacht weichen muss.
Doch was ist das? Woher kommt dieser große Schatten auf der sonnenüberfluteten Mauer? Ben schirmt seine Augen ab und entdeckt einen hohen Turm aus Holzbalken. Er steht in einigem Abstand zur Stadtbefestigung und überragt deren Zinnen. Sollten die Kreuzfahrer etwa …?
„Achmed, der Turm, sieh mal!“
„Was für ein Turm?“
Achmed schreckt auf. Als er die Konstruktion entdeckt, entfährt ihm ein entsetztes: „Oh, Allah!“
„Das Holz, Achmed … Wo haben sie das Holz her? Sie müssen es meilenweit herangekarrt haben.“
Ben kann es nicht fassen.
Achmed sagt entgeistert: „Der Turm ist beweglich! Sie können ihn vollbesetzt mit Kämpfern an die Mauer schieben!“
„Ob sie noch mehr davon haben?“
Achmed legt Ben den
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