Katharsia (German Edition)
zum Fenster. „Bitte, werfen Sie einen Blick hinaus, damit Sie die Tragweite Ihrer Entscheidung richtig einschätzen können.“
Bens Vater zögert.
Wolfenhagen packt ihn am Kaftan und schleift ihn unsanft zum Fenster. „Wissen Sie, Herr Hakim, so sehr ich diesen mordbrennenden Pöbel dort draußen verachte, in einem kann ich die Männer verstehen: Sie füllen sich ordentlich die Taschen. Die Mehrzahl dieser Hungerleider wird reich nach Hause ziehen. Sollte ich meine Getreuen, nur weil sie mehr Disziplin zeigen, schlechter stellen?“ Und auf die blutgetränkte Straße blickend, setzt er kalt hinzu: „Übrigens wird es wohl kaum jemanden geben, der noch in der Lage wäre, seine Sachen zurückzufordern.“
Hakim erbleicht. Mit schlotternden Händen öffnet er ein Kästchen in einem Schrein, entnimmt ihm einen Schlüssel und gibt ihn Wolfenhagen. „Im Keller, hinter dem großen Regal, dort ist eine Tür.“
„Ich wusste doch, dass man sich unter zivilisierten Menschen einigen kann.“
Achtlos wirft Wolfenhagen den Schlüssel dem Rotgesichtigen zu.
„Ich will alles hier oben haben! Und pass auf, dass sich keiner etwas abzweigt, jeder wird seinen Anteil bekommen!“
Kurze Zeit später schleppen die Kreuzfahrer unvorstellbare Kostbarkeiten heran: Pokale und Krüge aus purem Gold, besetzt mit Rubinen, Saphiren und Smaragden, kunstvoll gearbeitete Schatullen, gefüllt mit Perlenketten, brillantbesetzten Ringen und Armreifen, schwere Truhen, die bis zum Rand voll sind mit Gold und Silbermünzen.
Ben sieht, wie sein Vater am ganzen Körper zittert. Wie viele Jerusalemer mögen ihm ihren Reichtum anvertraut haben?
Euphorie macht sich breit unter den Kreuzfahrern. Ihre Augen glänzen. Jedes prachtvolle Stück bedenken sie mit bewundernden Ausrufen. Ihnen ist klar: Wenn auch nur halbwegs gerecht geteilt wird, dann ist jeder von ihnen reich. Nach schier endlosen Strapazen sind sie am Ziel ihrer Wünsche angelangt.
Als das letzte Stück herbeigeschafft ist, wenden sie sich erwartungsvoll Wolfenhagen zu, ihrem Anführer, der sie geradewegs ins Paradies geführt hat.
Der Graf erhebt sich, zieht mit großer Geste den Seldschukendolch aus seinem Gürtel und legt ihn zu den Kostbarkeiten.
Er spielt den Gerechten , denkt Ben bitter.
Gemurmel entsteht. Jean, der Rotgesichtige, nimmt den Dolch und will ihn Wolfenhagen zurückgeben, doch der Graf wehrt ab und hält eine kleine Ansprache, die lauten Beifall unter den Kreuzfahrern hervorruft. Zufrieden behält der Rotgesichtige den Dolch in den Händen, packt ihn fest und wirft unvermittelt einen kurzen Blick auf Ben. Dem Jungen gefriert das Blut in den Adern.
Plötzlich wird die Tür aufgestoßen. Djamila stürzt herein. Ihr Haar ist wirr, das Gesicht blutverschmiert. Schluchzend wirft sie sich Bens Mutter in die Arme.
Wolfenhagens Blick ist wie versteinert. Er stellt eine kurze Frage und wie zur Antwort schieben zwei Kreuzfahrer einen dritten zur Tür herein. Dessen Gesicht ist von Kratzwunden gezeichnet.
„Hat er dich angefasst?“, fragt Wolfenhagen Djamila.
„Er hat es versucht“, sagt sie unter Tränen.
„Dann hat er den Tod verdient.“
„Aber Herr Graf!“, wendet Bens Vater ein. „Ihre Leute haben doch das Schlimmste verhindert.“
„Das Schlimmste verhindert? Was meinen Sie damit, Herr Hakim?“ Die Stimme des Grafen klingt eisig.
„Na ja … Djamila ist nichts passiert. Sie ist mit dem Schrecken davongekommen“, erklärt Hakim schüchtern.
„Es geht hier nicht um Djamila. Dieser Mann hat meinen Befehl missachtet und das werde ich nicht dulden!“
Auf einmal wirkt der Graf sehr müde. Er hebt die Hände mit einem Ausdruck unendlichen Bedauerns, für seine Leute offenbar das Zeichen, ihm den Frevler aus den Augen zu schaffen. Der Delinquent weiß offenbar, was die Stunde geschlagen hat. Er wirft sich vor Wolfenhagen hin, redet flehend auf ihn ein. Doch die beiden Kreuzfahrer, die ihn herbeigeschleppt haben, packen ihn wortlos und schleifen ihn hinaus.
„Sie werden ihn jetzt richten, Herr Hakim. Er wusste, worauf er sich eingelassen hat.“ Der Graf holt tief Luft und schaut kummervoll drein. „Tja, es ist nicht immer leicht, Disziplin und Ordnung durchzusetzen. Wehe, du wirst auch nur einziges Mal schwach, lässt zu, dass deine Befehle missachtet werden, dann hast du verloren.“
Nach einigen Sekunden andächtigen Schweigens, während derer das grausige Konzert der Mordbrennerei von der Straße durch die Fenster dringt, ist Wolfenhagen
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