Katharsia (German Edition)
langsam näher? Ich laufe doch, so schnell ich kann! Die Lunge keucht, die Beine schmerzen! Oh Allah, mach, dass ich diese Mauer erreiche!
Jetzt der rettende Sprung …
Eine brutale Kraft reißt ihn zurück, drückt ihn nieder auf die Knie. Eine Faust greift in sein Haar, zerrt seinen Kopf in den Nacken, zwingt ihn, mit offenem Munde aufzuschauen. Dann ist er über ihm. Wolfenhagen! Mit erhobenem Spieß! Er steht da wie ein Dämon im flackernden Feuerschein, ein Zeremonienmeister, der jeden Moment seines makaberen Schauspiels genüsslich auskostet.
Ben brüllt sich die Seele aus dem Leib, ruft nach der Mutter, nach dem Vater, doch sie kommen nicht. Als der Spieß durch seine Kehle fährt und seinen letzten Schrei im Blut erstickt, sitzen sie im Hause vor der gedeckten Tafel und warten auf das Mahl.
GREGOR
Sando hatte endlich aufgehört zu schreien. Doch was nun kam, ängstigte Denise noch mehr. Mit zuckenden Gliedern lag der Junge am Boden und rang nach Luft.
Denise nahm seinen Kopf in ihren Schoß und sprach beruhigend auf ihn ein. Zum Glück waren die KORE-Engel inzwischen vom Himmel über dem Basar verschwunden. So konnte die Menschentraube, die sich um Sando und Denise gebildet hatte, nicht ihren Argwohn erregen.
„Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte einer der Umstehenden. Denise blickte erschrocken auf.
„Einen Arzt? Ich glaube nicht … Nein, das ist nicht nötig. Sehen Sie, es geht ihm schon wieder besser.“ Tatsächlich hatte sich Sando beruhigt, sein Atem ging gleichmäßig.
Endlich öffnete er die Augen und fragte unsicher: „Denise?“
Erleichtert fasste sie nach seiner Hand. „Mensch, Sando, was war denn los? Was machst du denn für Sachen?“
Da die Neugierigen keine Anstalten machten, weiterzugehen, sagte sie mit übertriebener Freundlichkeit in die Runde: „Sie sehen, meine Herrschaften, es geht ihm gut. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.“
Langsam zerstreute sich die Menge.
Sando, noch ganz aufgewühlt von dem, was ihm im Traum widerfahren war, versuchte, seine Gedanken zu sammeln.
„Wie hast du mich eben genannt? Sando?“
„Ja, wie denn sonst?“
„Na, Ben … vielleicht? Ich bin ganz durcheinander … Die Kreuzfahrer …“
Sando sprach arabisch.
Wolfenhagen, der Dämon , schoss es ihm durch den Kopf. Er presste die Fäuste an seine Schläfen, doch er wurde die Bilder des Grauens nicht los.
„Ich weiß ja nicht, was inzwischen mit dir passiert ist“, sagte Denise sanft, „ich jedenfalls kenne dich nur als Sando – Sando Wendelin, ein Junge aus Deutschland, der bis jetzt kein Wort arabisch sprach. Merkwürdigerweise sprichst du jetzt wie Ben, sogar den gleichen Akzent. Ich kann es mir nicht erklären, aber es ändert nichts daran, dass dein richtiger Name Sando ist.“
Ihre Stimme beruhigte ihn, öffnete seine Sinne für das, was um ihn herum geschah. Er sah sich um. Beim Anblick des Basars kehrte seine Erinnerung allmählich wieder: Sie befanden sich auf der Flucht, KORE-Engel hatten sie verfolgt, waren über dem Markt gekreist und hatten Ausschau nach ihnen gehalten.
Waren sie noch da?
Sando suchte den Himmel ab. Er schien wie leergefegt. Ein einziges zartes Wölkchen nur. Es geisterte auf ihn zu und entpuppte sich als die Seele Bens. Ihr durchscheinendes Jungengesicht sah sehr mitgenommen aus.
„Wie geht’s dir, Sando?“, wisperte Ben schuldbewusst.
„Schon gut“, sagte Sando leise. „Jetzt weiß ich, was die Kreuzfahrer angerichtet haben.“ Mit einer Handbewegung versuchte er, das aufkommende Bild des Dämons wegzuwischen.
„Verzeih!“, zirpte Ben. „Ich wünschte, ich hätte dir meine Geschichte ersparen können, aber gegen die alten Bilder bin ich machtlos. Sie sind mir unauslöschlich eingebrannt.“
„Mir jetzt auch“, sagte Sando beklommen.
Denise horchte auf. „Was hast du gesagt?“
„Ich habe mit Ben gesprochen. Er hat mich um Verzeihung gebeten.“
„Wofür?“
„Er hat mich, ohne es zu wollen, in seine Geschichte hineingezogen.“ Ihn fröstelte.
Denise umschloss den Jungen mit ihren kurzen Armen. Sando war dankbar für ihre Wärme, ihre Zuwendung.
Schließlich sagte sie schniefend: „Ich muss mit Ben reden. Kann er mich hören?“
Sando sah Bens Seele, schuldbewusst dreinblickend, vor sich schweben. „Er hört dich sehr gut, Denise.“
Der kleine Engel atmete tief durch. „Also, Ben, wir müssen etwas anderes finden, wohin du dich im Notfall zurückziehen kannst. Der Junge weiß ja nicht mehr, wer er ist.“
Eine
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